Aufschiebende Wirkung im AlVG – ist der Widerspenstigen Zähmung gelungen?

HARALDWÖGERBAUER

Für die Betrachtung der Judikaturentwicklung zur aufschiebenden Wirkung im AlVG ist die E des VfGH vom 2.12.2014, G 74/2014-10, G 78/2014-10, mit dem § 56 Abs 3 AlVG idF BGBl I 2013/71 als verfassungswidrig aufgehoben wurde, der Ausgangspunkt.* Diese Bestimmung normierte den generellen Ausschluss der aufschiebenden Wirkung und erlaubte die Zuerkennung der aufschiebenden Wirkung nur im Rahmen einer Beschwerdevorentscheidung und bei Erfüllung dreier weiterer Voraussetzungen, nämlich dass der Antrag auf aufschiebende Wirkung mit der Beschwerde innerhalb der Beschwerdefrist gestellt werde, die Beschwerde nicht von vornherein aussichtlos erscheine und keine begründeten Zweifel an der Einbringlichkeit allfälliger Rückforderungen bestehe. Der VfGH prüfte, ob die Abweichung von den §§ 13 und 15 VwGVG, die grundsätzlich die aufschiebende Wirkung von Beschwerden vorsehen, iSd Art 136 Abs 2 B-VG erforderlich ist. Da die Bestimmung zur Regelung des Gegenstandes jedoch nicht „unerlässlich“ war, dem, aus dem Rechtsstaatsprinzip abgeleiteten, Prinzip der Effektivität des Rechtsschutzes widersprach, weil sie dem Interesse des einzelnen Versicherten nicht hinreichend Rechnung trug – dieser sollte nicht generell einseitig mit allen Folgen einer potentiell rechtswidrigen behördlichen Entscheidung so lange belastet werden, bis sein Rechtsschutzgesuch endgültig erledigt war –, eine Interessenabwägung in der Bestimmung fehlte und kein subjektives öffentliches Recht auf eine Beschwerdevorentscheidung bestand, wurde sie seitens des VfGH aufgehoben.

Die in der Folge virulent gewordenen, problematischen Gesichtspunkte hatte der VfGH in seiner Rz 23 bereits offengelegt: „Ebenso anerkennt der Verfassungsgerichtshof, dass mit dem in der angefochtenen Bestimmung grundsätzlich vorgesehenen Ausschluss der aufschiebenden Wirkung den in der Praxis bestehenden Schwierigkeiten im Zusammenhang mit der Einbringung allenfalls unberechtigt empfangener Geldleistungen begegnet werden soll.“ Daraus entwickelte sich, mangels einer gesetzlichen Nachfolgeregelung, die Verwaltungspraxis des Arbeitsmarktservice (AMS) generell bei allen Beschwerden die aufschiebende Wirkung auszuschließen, wenn es sich um Leistungssperren gem § 10 AlVG handelte.

Keul sah in einem Beitrag dazu eine „verfassungswidrige Vorgangsweise des AMS“,* da dieses in Sanktionsfällen weiterhin die aufschiebende Wirkung per Bescheid ausschloss, eine „widersprüchliche Rsp des BVwG“* und wünschte sich die „Einhaltung der Effektivität ihres [der Arbeitssuchenden] Rechtsschutzes“* sowie die „Einheitlichkeit der Rsp des BVwG“.* Der Autor dieser Zeilen versuchte dann in einer Replik die divergierenden Ansichten des BVwG hinsichtlich „Begründungslast“* und „Form“* herauszuarbeiten und somit die Rechtsprechungslinien zu verdeutlichen.

Seitdem hat sich in der Judikatur einiges getan, diese Entwicklungen will der Verfasser dieser Zeilen nun näher betrachten. Der VwGH hat in den Entscheidungen vom 7.9.2017, Ra 2017/08/0065, sowie vom 11.4.2018, Ro 2017/08/0033, die Judikatur zur aufschiebenden Wirkung bzw deren Ausschluss fortentwickelt.

In der E vom 7.9.2017, Ra 2017/08/0065, warf das AMS als revisionswerbende Partei die Frage auf, ob die Entscheidungen in Verfahren über den Ausschluss von aufschiebenden Wirkungen durch Einzelrichter- oder Senatsentscheidung zu erfolgen haben, mit dem Hinweis, dass die Mehrzahl der Verfahren bis dahin in Form von Einzelrichterentscheidungen abgeschlossen wurde. Die Revision war zulässig und berechtigt, da der VwGH aufgrund des § 56 Abs 2 AlVG schloss, dass dieser nur auf die bescheiderlassende Behörde abstelle und nicht auf den Inhalt der E. Aufgrund des Legalitätsprinzips iSd Art 18 Abs 1 iVm Art 83 Abs 2 B-VG folgerte der VwGH weiter, dass „eine Zuständigkeitsfestlegung klar und unmissverständlich sein muss“. Die zuvor geäußerte Argumentation des Autors zu § 9 Abs 1 BVwGG* verwarf der VwGH, da dieser Paragraph „hingegen nur die der Entscheidung in der Hauptsache vorangehenden Beschlüsse“ betrifft. Da fallgegenständlich die Beschwerde gegen den, die aufschiebende Wirkung ausschließenden, Bescheid des AMS die Hauptsache bildete, wäre daher beim BVwG zur Entscheidungsfindung ein Senat heranzuziehen gewesen, was in diesem Fall nicht geschehen war.

In der Folgeentscheidung des VwGH vom 11.4.2018, Ro 2017/08/0033, wurde wiederum der Revision des AMS Folge gegeben. Das BVwG war nunmehr nach Entscheidung in Form eines Erkenntnisses und unter Beachtung der Bildung eines Senates zum Ergebnis gekommen, dass keine Gefahr in Verzug vorläge, da zwar „unberechtigt empfangene Geldleistungen vom Mitbeteiligten mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit nachträglich nur mit Schwierigkeiten wieder eingebracht werden könnten“, „eine konkrete Gefahr für die öffentliche Ordnung, Ruhe und Sicherheit oder die konkrete Gefahr einer unvertretbar hohen finanziellen Belastung der Versichertengemeinschaft“ jedoch nicht abzuleiten sei. Die Revision monierte eine mangelnde Interessenabwägung des BVwG, da der Arbeitslose nichts hinsichtlich seines unverhältnismäßigen Nachteils vorgebracht habe und „die Bestreitung des Lebensunterhalts mit den Mitteln der Arbeitslosenversicherung […] grundsätzlich immer vor[liege] und […] kein alleiniges Kriterium für die Beurteilung der Gewährung der aufschiebenden Wirkung sein [könne]“. Außerdem „ginge der im öffentlichen Interesse liegende Sanktionscharakter verloren“, wenn aufschiebende Wirkung gewährt werde und habe beim Arbeitslosen der Leistungsbezug von fast vier Jahren in die Abwägung einzufließen. Abschließend wäre eine Rückforderung im Regelfall erst mit der Aufnahme einer neuen Beschäftigung möglich und würden so die „Voraussetzung der Arbeitswilligkeit für den Leistungsbezug“ unterlaufen. Der VwGH führte einleitend aus, dass die Rechtsschutzdefizite, welche zur Aufhebung des § 56 Abs 3 AlVG idF BGBl I 2013/71 durch den VfGH führten, bei § 13 Abs 2 VwGVG durch die vorzunehmende Interessenabwägung im Einzelfall nicht vorliegen. „Das Tatbestandsmerkmal ‚Gefahr im Verzug‘“ solle „erhebliche bzw. gravierende Nachteile“ auf Basis der Interessenabwägung verhindern. Der Arbeitslose habe „die nicht ohne weiteres erkennbaren Umstände, die sein Interesse an einer Weitergewährung untermauern, sowie die in seiner Sphäre liegenden Umstände, die entgegen entsprechender Feststellungen des AMS für die Einbringlichkeit einer künftigen Rückforderung sprechen, spätestens in der Begründung (§ 9 Abs. 1 Z 3 VwGVG) seiner Beschwerde gegen die Aberkennung der aufschiebenden Wirkung konkret darzutun“. Er sah das öffentliche Interesse „nach einer Aberkennung der aufschiebenden Wirkung […] insbesondere bei der Verhängung einer Sperrfrist mangels Arbeitswilligkeit gemäß § 10 Abs. 1 Z 1 AlVG (iVm § 38 AlVG) gegeben, deren disziplinierender Zweck weitgehend verloren ginge, wenn sie erst Monate nach ihrer Verhängung in Kraft treten würde. Die Interessenabwägung kann vor allem dann zu Gunsten einer Aberkennung der aufschiebenden Wirkung ausschlagen, wenn für den Fall einer vorläufigen Weitergewährung einer Leistung die Einbringlichkeit des Überbezuges gefährdet ist“. Eine mangelnde Mitwirkung des Arbeitslosen führe zur Annahme der Gefährdung. Führt die Beurteilung der Erfolgsaussichten dazu, dass eine Rückforderung unwahrscheinlich erscheint, ist eine Gefährdung der Einbringlichkeit nicht anzunehmen.

Wirkungen für die Praxis – eine Punktation als Überblick für den Praktiker:

VwGH-E vom 7.9.2017, Ra 2017/08/0065:

- Die Entscheidungen des BVwG betreffend aufschiebende Wirkung haben durch Erkenntnis zu erfolgen. Das Erkenntnis hat in Senatszusammensetzung* zu erfolgen.

VwGH-E vom 11.4.2018, Ro 2017/08/0033:

- In der Beschwerde oder bei gesondertem Antrag auf aufschiebende Wirkung muss dargelegt werden:

a) das individuelle Interesse an einer Weitergewährung der Leistung;

b) Umstände, die für die Einbringlichkeit einer künftigen Rückforderung sprechen.

Diese Unterpunkte sind durch Beweismittel zu konkretisieren. Mangelnde Konkretisierung führt zur Annahme der Gefährdung der Einbringlichkeit als öffentliches Interesse.

- Bei der Verhängung einer Sperrfrist mangels Arbeitswilligkeit ist vom Gericht als öffentliches Interesse der disziplinierende Zweck des Ausschlusses der aufschiebenden Wirkung zu werten, der sonst verloren ginge.

- Ist aufgrund der Erfolgsaussichten der Beschwerde eine Rückforderung unwahrscheinlich, ist weder eine Gefährdung der Einbringlichkeit gegeben noch ein zu verfolgender disziplinierender Zweck.

Sind die Widerspenstigen gezähmt oder doch nicht?

Rechtlich scheint somit prima vista hinsichtlich des Ausschlusses der aufschiebenden Wirkung alles geklärt, die Richter des BVwG können also nunmehr zur Umsetzung in den Einzelfällen schreiten und eine einheitliche Rechtsprechungs-98linie ist durch den VwGH durch die beiden Entscheidungen vorgegeben, womit es grundsätzlich zu keinen Widerspenstigkeiten iS verschiedener Rechtsprechungslinien mehr kommen sollte. Jedoch ergeben sich aus Sicht des Autors noch ein paar Ungereimtheiten, die hier – im Geiste eines Aufloderns der Widerspenstigkeit – kurz angerissen werden sollen.

Entscheidungen des BVwG über den Ausschluss von aufschiebender Wirkung haben nunmehr in Senatsbesetzung zu erfolgen. Schon im alltäglichen Arbeitsalltag ist es jedoch schwierig, die ehrenamtlichen Laienrichter, die – im Gegensatz zu zB arbeitsgerichtlichen Laienrichtern – keine Vergütung erhalten, sofort zur Entscheidung zu einem Termin verfügbar zu haben. In Urlaubszeiten wie Schulferien oder Weihnachten ist eine Einberufung von zwei Laienrichtern zu einem gemeinsamen Termin dann fast ein Ding der Unmöglichkeit. Aus dem Werdegang der beiden VwGH-Entscheidungen kann abgelesen werden, dass das zugrundeliegende Verfahren beim BVwG dasselbe war. Die Frage über die Zuerkennung der aufschiebenden Wirkung harrte seit Mai 2017 bis 11.4.2018 einer endgültigen Entscheidung. Es darf der Vollständigkeit halber zwar nicht unerwähnt bleiben, dass es hier zweier Rechtsgänge zum Höchstgericht bedurfte, jedoch sollte der Wunsch des Autors, iSd Rechtssuchenden, nach einer rascheren Entscheidungsfindungsmöglichkeit hoffentlich auf Verständnis beim Leser stoßen, da das besagte Verfahren beinahe ein Jahr benötigt hat und es nur um die Frage der aufschiebenden Wirkung – nicht die inhaltliche Entscheidung – ging. Der Gesetzgeber könnte iS dieses Beschleunigungszweckes im VwGVG eine Neuregelung schaffen, die zB eine Beschlussfassung im Umlaufwege oder gar die Beschlussfassung als Einzelrichter für Verfahren betreffend die Frage der aufschiebenden Wirkung regelt. Hier könnte die Zuständigkeitsregelung des § 14 Abs 2 VwGG als Vorbild dienen.*

Diskussionswürdig ist auch die Annahme des disziplinierenden Zweckes des Ausschlusses der aufschiebenden Wirkung. Der VwGH nimmt diesen ohne Zugrundelegung irgendwelcher Studien zu diesem Thema seitens des revisionswerbenden AMS an. Nun ist der Sanktionscharakter der Entscheidung über eine Bezugssperre nicht zu leugnen, doch der verfrühte Eintritt der Sperre auf Basis eines Ausschlusses der aufschiebenden Wirkung soll diesen auch haben? Der Verfasser dieser Zeilen hält dies nicht für unmöglich, hält aber auch das Gegenteil nicht für ausgeschlossen. Den Autor dieser Zeilen beschleicht jedenfalls ein beklemmendes Gefühl, würde der VwGH diese Argumentation beispielhaft auf Verfahren betreffend den Ausschluss der aufschiebenden Wirkung im Zusammenhang mit einem Hauptverfahren über Strafzahlungen wegen Geschwindigkeitsüberschreitung nach der StVO umlegen. Glücklicherweise verhindert der Gesetzgeber derzeit in § 41 VwGVG derlei Ansätze in Verwaltungsstrafsachen. Wenn jedoch die Beurteilung des Ausschlusses der aufschiebenden Wirkung im AlVG zu härteren Ergebnissen führt als in Verwaltungsstrafsachen, stellt sich die abschließende Frage, ob dementsprechend höhere Verfahrensgarantien im Verfahren über aufschiebende Wirkungen im AlVG als im Verwaltungsstrafverfahren verankert sind, die dieses Ungleichgewicht ausgleichen.99