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Durchbrechung der Rechtskraftwirkung bei Gewährung einer Leistung aufgrund einer Fehleinschätzung

MONIKAWEISSENSTEINER

Entscheidend für die Abgrenzung der Rechtskraftwirkungen eines Bescheides ist die Sachlage wie sie im Gewährungszeitpunkt objektiv vorlag und nicht jene, welche auf einer allfälligen Fehleinschätzung des ärztlichen Sachverständigen oder auf einer nicht abschließenden diagnostischen Abklärung beruhte.

SACHVERHALT

Der 1966 geborene Kl bezog (ab einem nicht näher festgestellten Zeitpunkt) Rehabilitationsgeld, das ihm mit Bescheid der Pensionsversicherungsanstalt (PVA) vom 30.11.2016 per 31.1.2017 entzogen wurde, weil eine Besserung der kardiovaskulären Leistungsfähigkeit stattgefunden habe.

VERFAHREN UND ENTSCHEIDUNG

In der Klage brachte der Kl vor, dass sich sein Gesundheitszustand nicht so weit gebessert habe, dass ihm die Ausübung einer auf dem Arbeitsmarkt noch bewerteten Tätigkeit wieder möglich sei. (Anm: Jene Teile des Klagebegehrens betreffend die Gewährung von Rehabilitationsleistungen bzw einer dauernden Invaliditätspension, die nicht mehr Gegenstand des Revisionsverfahrens waren, werden der Verständlichkeit wegen nicht in die folgende Besprechung aufgenommen).

Das Erstgericht stellte fest, dass im Vergleich zum (nicht festgestellten) Gewährungszeitpunkt eine Besserung des Gesundheitszustands des Kl iS einer kardiovaskulären Leistungsverbesserung stattgefunden habe. Es könne aber nicht festgestellt werden, dass der Kl zum Gewährungszeitpunkt objektiv „völlig arbeitsunfähig“ gewesen sei; es sei unklar gewesen, ob er „arbeitsfähig“ sei. Durch weitere, nach dem Gewährungszeitpunkt durchgeführte Untersuchungen habe sich ergeben, dass die Schmerzen im Brustkorb nicht von der Herzerkrankung, sondern von der Wirbelsäule herrührten und die koronare Herzerkrankung „nunmehr“ leichte Arbeiten zulasse. Es sei jedenfalls zu einer Besserung des Gesundheitszustands und der Leistungsfähigkeit des Kl in Bezug auf seine Herzerkrankung gekommen.

Das Berufungsgericht gab der Berufung Folge und sprach aus, dass weiter Anspruch auf Rehabilitationsgeld bestehe. Es habe sich zwar der Gesundheitszustand gebessert, da sich aber das Leistungskalkül zum Gewährungszeitpunkt nicht habe feststellen lassen, gehe das zu Lasten der beweispflichtigen Bekl und die Rechtskraft der Gewährungsentscheidung stehe der Entziehung entgegen.

Der OGH gab der außerordentlichen Revision der Bekl Folge und hob die Urteile der Vorinstanzen auf und verwies die Rechtssache zur neuerlichen Verhandlung und Entscheidung an das Erstgericht zurück.

ORIGINALZITATE AUS DER ENTSCHEIDUNG

„[…]

2.2 […] Bei den […] Entziehungstatbeständen – Besserung des Gesundheitszustands, Zumutbarkeit der beruflichen Rehabilitierbarkeit, Eintritt voraussichtlich dauernder Invalidität/Berufsunfähigkeit – handelt es sich aber jeweils um Fälle des Wegfalls einer ursprünglich vorhandenen Leistungsvoraussetzung im Sinn des Grundtatbestands des § 99 Abs 1 ASVG (Atria in Sonntag, ASVG9 § 99 Rz 23).

2.3 In allen diesen Fällen kann daher (auch) das Rehabilitationsgeld nach § 99 Abs 1 ASVG nur entzogen werden, wenn eine wesentliche, entscheidende Änderung der Verhältnisse gegenüber dem Zeitpunkt der ursprünglichen Zuerkennung eingetreten ist (10 ObS 50/15y, SSV-NF 29/48); ansonsten steht die materielle Rechtskraft der Gewährungsentscheidung der Entziehung entgegen (RIS-Justiz RS0106704; RS0083941 [T1]). Zeitpunkt der ursprünglichen Leistungszuerkennung ist die Erlassung des Gewährungsbescheids. Es ist der Zustand in diesem Bescheidzeitpunkt, dem Zustand im Zeitpunkt der Entziehung gegenüberzustellen […].

Die Änderung kann im Fall einer Leistung aus den Versicherungsfällen der geminderten Arbeitsfähigkeit etwa in der Besserung des körperlichen oder geistigen Zustands des Versicherten oder in der Wiederherstellung oder Besserung seiner Arbeitsfähigkeit infolge Gewöhnung und Anpassung an die Leiden bestehen (vgl RIS-Justiz RS0083884). Ist der Leistungsbezieher durch diese Änderung auf dem Arbeitsmarkt wieder einsetzbar, ist die Entziehung der Leistung sachlich gerechtfertigt […].

2.4 Den Versicherungsträger trifft die objektive Beweislast dafür, dass eine rechtlich relevante Besserung des bei Gewährung der Leistung bestandenen Zustands eingetreten ist […].

3.1 Ob eine wesentliche Änderung der Verhältnisse im Vergleich zum Gewährungszeitpunkt eingetreten ist oder ob dies nicht der Fall ist, kann aber […] nach den getroffenen Feststellungen nicht verlässlich beurteilt werden.

3.2 […] Die Feststellungen zur Abklärung der Schmerzen des Klägers im Brustbereich deuten […] darauf hin, dass die im Gewährungszeitpunkt bestehenden diagnostischen Unsicherheiten behoben wurden, sodass zum Beurteilungszeitpunkt (§ 193 ZPO) die Ursache der Brustschmerzen des89 Klägers auch für den Gewährungszeitpunkt geklärt und damit ein Leistungskalkül für diesen Zeitpunkt sehr wohl erstellbar ist.

3.3 Entscheidend für die Abgrenzung der Rechtskraftwirkungen des Bescheids der Beklagten ist die Sachlage, wie sie im Zeitpunkt der (Gewährungs-) Entscheidung objektiv vorlag, und nicht jene, welche – auf einer allfälligen Fehleinschätzung der ärztlichen Sachverständigen (vgl RIS-Justiz RS0110119 [T6] = 10 ObS 144/17z), auf der Heranziehung von im Gewährungszeitpunkt nicht mehr zutreffenden Gutachten (vgl 10 ObS 330/92, SSV-NF 7/2; RIS-Justiz RS0083876) oder, wie hier, auf einer nicht abschließenden diagnostischen Abklärung beruhend – subjektiv angenommen wurde.

4.1 Im fortzusetzenden Verfahren werden daher zunächst widerspruchsfreie Feststellungen zu den Einschränkungen der Leistungsfähigkeit (Leistungskalkül) des Klägers im Gewährungszeitpunkt sowie – ausgehend davon – Feststellungen dazu zu treffen sein, in welchem Umfang der Kläger im Hinblick auf die bestehenden Einschränkungen im Gewährungszeitpunkt behindert war bzw welche Tätigkeiten er ausführen konnte […].

4.2 Sollte sich auch ergeben, dass im Zeitpunkt der Erlassung des Gewährungsbescheids die Voraussetzungen für die Zuerkennung von Rehabilitationsgeld erfüllt waren, wäre in der Wiedererlangung einer Leistungsfähigkeit, die dem Kläger die Ausübung einer auf dem Arbeitsmarkt noch bewerteten Tätigkeit erlaubt, eine wesentliche, entscheidende Änderung der Verhältnisse gegenüber dem Zeitpunkt der Zuerkennung zu erblicken. In diesem Fall wäre die Entziehung des Rehabilitationsgeldes zu Recht erfolgt.

4.3 Der Oberste Gerichtshof hat jüngst ausgesprochen, dass dann, wenn einem Versehrten mit einer Minderung der Erwerbsfähigkeit von 5 bis 10 vH aufgrund einer Fehlbeurteilung eine Dauerrente gewährt wird, auch eine geringfügige Verbesserung seines Zustands, die zu einer etwa im Bereich von rund 5 bis 10 vH liegenden Änderung des Maßes der Minderung der Erwerbsfähigkeit führt, eine Entziehung der zu Unrecht gewährten Dauerrente rechtfertigt (10 ObS 87/16s, SSVNF 30/49; RIS-Justiz RS0084194 [T1], RS0110119 [T4], RS0084142 [T4], RS0084151 [T6]). In der Entscheidung 10 ObS 87/16s sieht der Oberste Gerichtshof es als schwer vertretbares Ergebnis an, wenn ein Versehrter, dem eine Dauerrente im Ausmaß von 20 vH der Vollrente zu Recht gewährt wurde, bei einer geringfügigen Verbesserung seines Zustands die Entziehung der Rente in Kauf nehmen muss (RIS-Justiz RS0084224), während einem Versehrten mit einer Minderung der Erwerbsfähigkeit von lediglich 5 bis 10 vH die aufgrund einer Fehleinschätzung gewährte Dauerrente trotz Vorliegens einer umfänglich gleichen Verbesserung nicht entzogen werden könnte.

Dieser Grundsatz wurde zuletzt auch auf die Entziehung des Pflegegeldes angewendet (10 ObS 78/17v).

Zu Recht gingen die Vorinstanzen davon aus, dass er auch auf die Entziehung des Rehabilitationsgeldes anzuwenden ist. Auch die Anwendung dieses Grundsatzes erfordert aber die Feststellung des Leistungskalküls des Klägers bezogen auf den Zeitpunkt der Zuerkennung des Rehabilitationsgeldes.

4.4 Sollte dieses im fortgesetzten Verfahren nicht feststellbar sein, so fiele die Negativfeststellung der mit dem Beweis des Eintritts einer rechtlich relevanten Besserung belasteten Beklagten […].“

ERLÄUTERUNG

Hauptgegenstand dieser E ist die Frage, ob das Rehabilitationsgeld von der PVA zu Recht entzogen wurde. Eine Leistung ist dann zu entziehen, wenn die Voraussetzungen des Anspruches auf eine laufende Leistung nicht mehr gegeben sind (§ 99 Abs 1 ASVG). Das Rehabilitationsgeld ist ua dann zu entziehen, wenn vorübergehende Invalidität nicht mehr vorliegt (§ 99 Abs 3 Z 1 lit aa ASVG). Diese Formulierung zeigt, dass die Leistungsvoraussetzungen ursprünglich vorhanden sein mussten. Wurde eine Leistung bereits ursprünglich zu Unrecht zuerkannt, kann bei unveränderter Sachlage die Leistung nicht entzogen werden. In diesem Fall steht die materielle Rechtskraft der Gewährungsentscheidung einer Entziehung entgegen. Es muss eine wesentliche, entscheidende Änderung gegenüber dem Gewährungszeitpunkt eingetreten sein, um eine Entziehung zu rechtfertigen. Die Änderung kann eine Besserung des Gesundheitszustands oder eine Besserung der Arbeitsfähigkeit infolge Gewöhnung und Anpassung an das Leiden sein. Die Beweislast, ob eine rechtlich relevante Besserung eingetreten ist, trifft den Versicherungsträger.

Entscheidend ist immer die Sachlage, wie sie im Gewährungszeitpunkt objektiv vorlag, weshalb widerspruchsfreie, eindeutige Feststellungen betreffend das Leistungskalkül erforderlich sind. Der OGH verweist auch auf seine jüngste Rsp aus dem Bereich der UV (OGH 19.7.2016, 10 ObS 87/16s) und zum Pflegegeld (OGH 13.9.2017, 10 ObS 78/17v), wonach bei Vorliegen einer wesentlichen Änderung der tatsächlichen Verhältnisse eine ursprünglich unrichtige Einschätzung nicht fortgeschrieben werden muss. Dieser Grundsatz ist auch auf die Entziehung des Rehabilitationsgeldes anzuwenden. Wenn das Leistungskalkül für den Gewährungszeitpunkt aber nicht feststellbar ist, fällt das der Bekl zur Last.90