Reissner/Mair (Hrsg)Menschen mit Behinderung im Arbeits- und Sozialrecht

Linde Verlag, Wien 2017, 146 Seiten, € 29,–

THOMASMATHY (LINZ)

Wie sonst nur wenige Themen vermag der Umgang, den eine Gesellschaft gegenüber Menschen mit Behinderung an den Tag legt, Aufschluss über die vorherrschenden Wertvorstellungen zu geben. Eindrückliches Beispiel dafür bildet das Jahr 1920: In diesem wurde einerseits mit dem Invalidenbeschäftigungsgesetz (StGBl 1920/459) – wenngleich noch beschränkt auf den Kreis der Kriegsgeschädigten – der Grundstein für eine Entwicklung gelegt, an deren (vorläufigem) Ende das BEinstG steht (vgl S. Mayer, Behinderung und Arbeitsrecht [2010] 8 f), in dieses Jahr fällt andererseits auch die Veröffentlichung des von Binding und Hoche verfassten „Die Freigabe der Vernichtung lebensunwerten Lebens“, bei welchem es sich zwar um einen hervorstechenden Markstein handelt, das sich jedoch in einen breiten Entstehungskontext einordnet (vgl Roelcke in Riha [Hrsg], „Die Freigabe der Vernichtung lebensunwerten Lebens“ – Beiträge des Symposiums über Karl Binding und Alfred Hoche am 2. Dezember 2004 in Leipzig [2005] 20 ff).

Das vorliegende von Reissner und Mair herausgegebene Buch setzt am Schnittpunkt zwischen der knapp 100-jährigen Geschichte und der – vor dem Hintergrund der UN-Behindertenrechtskonvention – notwendigen Fortentwicklung dieses Rechtsgebietes an. Es wird der Blick auf den „status quo“ gerichtet, damit die nächsten Schritte auf dem Weg zu der von der UN-Behindertenrechtskonvention angestrebten inklusiven Gesellschaft klarer gesehen werden können. Dennoch erschöpfen sich die insgesamt sechs Beiträge von Reissner, Auer-Mayer, Heinz-Ofner, Mair, Hofer und Födermayr – bei denen es sich um die Schriftfassungen der anlässlich des 4. Wissenschaftlichen Symposiums zu speziellen Fragen des Arbeitsrechts und Sozialrechts gehaltenen Referate handelt – nicht in einer deskriptiven Darstellung von Normen und Streitständen. Im Gegenteil: In profunder Weise wird zu aktuellen Fragen Stellung genommen. In seinem Beitrag über die arbeits- und sozialrechtlichen Rahmenbedingungen der Beschäftigung von Menschen mit Behinderung greift Reissner etwa die in den vergangenen Jahren aufgrund zweier Entscheidungen des OGH entbrannte Diskussion darüber auf, ob es für die Erfüllung des Typusbegriffes Arbeitsvertrag notwendig ist, dass ein „eigenwirtschaftliches Interesse“ beim AG vorliegt, welches über das Interesse am Wohlergehen des Tätigen hinausgeht. Überzeugend führt Reissner zunächst aus, dass die Wendung „Dienstleistung für einen anderen“ in § 1151 Abs 1 ABGB den Ausgangspunkt für die Ableitung des Charakteristikums des Arbeitsvertrages, der Einräumung des Verfügungsrechts über die eigene Arbeitskraft an eine andere Person (persönliche Abhängigkeit) ist. Diese Wendung sei aber auch einer Weiterentwicklung zugänglich und ihrem Gegenteil, der „Dienstleistung für sich selbst“, gegenüberzustellen. Verpflichte sich jemand vertraglich zu Diensten, die „nicht primär für das (erwerbs-)wirtschaftliche („kapitalistische“) Interesse des Leistungsempfängers, sondern (mehr oder weniger stark) über-367wiegend im Interesse des Leistungserbringers organisiert sind“, handle es sich nicht um einen Arbeitsvertrag. Dabei sei ein objektiver Maßstab anzulegen. Wenngleich Reissner dieses Kriterium – entgegen manchen Stimmen im Schrifttum und wohl auch entgegen der Rsp – als Teil der persönlichen Abhängigkeit begreift und lediglich zur Erhärtung des im Rahmen der Prüfung der „klassischen“ Elemente der persönlichen Abhängigkeit erzielten Ergebnisses heranziehen will, sind mE doch gewisse grundsätzliche Bedenken gegen ein solches „Nutzenkriterium“ anzumelden:

Zunächst ist anzumerken, dass die Organisation der Dienste im erwerbswirtschaftlichen Interesse des Leistungsempfängers einerseits und im Interesse des Leistungserbringers andererseits kein Gegensatzpaar darstellt, dem alle denkbaren Fälle unterstellt werden können. Würde sich etwa ein wohlhabender Kunstfreund die Anstellung von Schauspielern lediglich zum Zweck seiner persönlichen Unterhaltung leisten, liegt bei diesem kein erwerbswirtschaftliches Interesse vor, es kann aber auch nicht gesagt werden, dass die Dienste überwiegend im Interesse des Leistungserbringers organisiert sind. Der Kunstfreund zieht zwar keinen wirtschaftlichen Nutzen aus den Verträgen mit den Schauspielern, sehr wohl aber einen immateriellen Nutzen. Kann der Nutzen, den ein AG aus einem Arbeitsverhältnis zieht, aber ein immaterieller sein, so wird die Unterscheidung der vertraglichen Verpflichtung zu Diensten „für sich selbst“ oder „für einen anderen“ praktisch undurchführbar. Ebenso wie der Kunstfreund sein Interesse an der Schauspielkunst verfolgt, verfolgt ein gemeinnütziger und mildtätiger Verein, der am zweiten Arbeitsmarkt einen sozialökonomischen Betrieb führt, seinen statutenmäßig festgelegten Zweck, maW das von den Gründern festgelegte „eigene“ Interesse des Vereins (vgl Ostheim, Zur Rechtsfähigkeit von Verbänden im österreichischen bürgerlichen Recht [1967] 15 ff). Letztlich verfolgt jede Partei beim Vertragsabschluss ihre eigenen Interessen. Das ist auch die Grundlage für die zumindest subjektive Richtigkeitsgewähr des Vertrags: Jeder nimmt grundsätzlich nur insoweit eine Beeinträchtigung eigener Interessen auf sich, als ihm dies durch die Förderung seiner anderen Interessen zumindest aufgewogen erscheint (vgl Schmidt-Rimpler, AcP 147, 151). Wenn daher anhand eines „objektiven Maßstabes“ beurteilt werden soll, ob das Interesse des Leistungsempfängers oder das Interesse des Leistungserbringers überwiegt, ist mE unklar, an welcher Werteskala dies gemessen werden soll. Diese Unklarheit birgt die Gefahr, dass die Entscheidung letztlich dem nicht näher determinierten Ermessen des Richters anheimgestellt wird. Überdies ist Folgendes zu bedenken: Auch der, der Dienste „für sich selbst“ nach Weisung eines anderen zu erbringen hat, sein „überwiegendes eigenes Interesse“ aber nicht erkennt bzw dieses für sich anders definiert, empfindet seine persönliche Abhängigkeit nicht weniger drückend als der, der weisungsgebunden Dienste „für einen anderen“ zu leisten hat. Auch aus diesem Grund scheint mir eine derartige Differenzierung nicht angezeigt.

Unabhängig davon, wie man zu diesen Überlegungen steht, verdient der Vorschlag Reissners Beachtung, das „Nutzenkriterium“ als Indiz für eine schwache Ausprägung der „klassischen“ Elemente der persönlichen Abhängigkeit zu werten. Es bleibt abzuwarten, ob die Rsp diesen – die Handhabung dieses Problems in der Praxis zweifellos erleichternden – Vorschlag aufgreift. Dem wäre jedoch die Gefahr immanent, dass in Hinkunft rechtsdogmatisch hochinteressante Beiträge zu dieser Thematik – wie jener von Reissner – infolge der reduzierten praktischen Bedeutung rar würden.

Auf die weiteren Beiträge näher einzugehen, verbietet die an dieser Stelle gebotene Kürze, es sei nur so viel gesagt: Auch sie zeugen einerseits von der hervorragenden juristischen Fachkenntnis der Autorinnen und Autoren sowie andererseits dem Verständnis für die besonderen Lebenssituationen von Menschen mit Behinderung. Die eingehende Auseinandersetzung mit dem „Nutzenkriterium“ war mE jedoch geboten, da es sich dabei um eine zentrale Weichenstellung handelt, hat es doch Auswirkungen sowohl auf die Anwendbarkeit arbeitsrechtlicher Normen und Normenverträge als auch auf den sozialversicherungsrechtlichen DN-Begriff, liegt also auch den weiteren Beiträgen des Buches gleichsam als Vorfrage zugrunde.

Abschließend bleibt festzuhalten, dass mit diesem Buch nicht nur ein handliches Nachschlagewerk für im Bereich des Behindertenrechts tätige Praktiker geschaffen wurde, sondern dadurch auch die wissenschaftliche Diskussion in mannigfaltiger Weise belebt wird. Kurzum: Ein unverzichtbares Werk für jeden mit der Thematik befassten Juristen.368