TutschekIrrtums- und Listanfechtung im Arbeitsrecht – Spannungsfeld zwischen arbeitsrechtlichen Schutzüberlegungen und allgemeinem Zivilrecht

Manz Verlag, Wien 2017, XVIII, 126 Seiten, broschiert, € 38,–

ANNALISAENGELHART (SALZBURG)

Das zu rezensierende Werk von Julia Tutschek stellt ihre im Juli 2016 an der Johannes-Kepler-Universität Linz eingereichte Dissertation dar, die nun in der Reihe manzwissenschaft veröffentlicht wurde. Verträge, die aufgrund fehlerhafter Willenserklärungen abgeschlossen wurden, können prinzipiell bei Vorliegen eines Irrtums oder einer List angefochten werden. Fraglich ist jedoch, ob dies unbegrenzt auch für Dauerschuldverhältnisse gelten kann. Daher beschäftigt die Anfechtung von Dauerschuldverhältnissen und speziell im Bereich des Arbeitsrechts das Spannungsverhältnis zwischen arbeitsrechtlichen Schutzüberlegungen und allgemeinem Zivilrecht seit jeher Lehre und Rsp. Aus diesem Grund ist es sehr begrüßenswert, dass es nun eine Monographie in Form einer Dissertation zu diesem Themenbereich gibt.

Insb Gschnitzer (Die Kündigung nach deutschem und österreichischem Recht, JherJB 76, 317) hat sich detailliert mit der Beendigung von Dauerschuldverhältnissen beschäftigt und wohl erstmals umfassend argumentiert, dass in Vollzug gesetzte Dauerschuldverhältnisse nicht rückwirkend aufgelöst und dementsprechend auch Arbeitsverhältnisse nur für die Zukunft – ex nunc – beendet werden können. Diesem Ansatz folgte schließlich auch der OGH (4 Ob 57/68 Arb 8574 =

[zust Kuderna]
= JBl 1969, 285 [krit Spielbüchler] = ZAS 1970/16 [krit Migsch]; 9 ObA 232/93 Arb 10.245 = ZAS 1984/25 [zust R. Müller] =
[krit Petrovic]
)
und führte noch etwas differenzierter aus, dass ein Irrtum bei Abschluss des Arbeitsvertrages lediglich als Auflösungsgrund wirke und nicht zur Anfechtung berechtige. In diesem Zusammenhang ist schließlich auch die Frage der Verdrängung der Anfechtung durch die Auflösung aus wichtigem Grund vielfach kontrovers diskutiert worden (siehe zB Pfeil in Neumayr/Reissner [Hrsg], ZellKomm2 § 86 GewO 1859; Kuderna, Entlassungsrecht2 [1994] 129; F. Bydlinski, Arbeitsrechtskodifikation und allgemeines Zivilrecht [1969] 109; Spielbüchler in Floretta/Spielbüchler/Strasser, Arbeitsrecht I4 [1998] 141 f; Kocevar, Der Irrtum im Arbeitsvertragsrecht, ; Binder, Irrtumsanfechtung, Rücktritt und Eintritt einer Resolutivbedingung als besondere arbeitsvertragliche Beendigungsformen, in FS Barta [2009] 124; P. Bydlins-365ki/Ibler, Die Wirkung der Anfechtung von Dauerschuldverhältnissen, JBl 2016, 17; Engelhart, Anfechtung von Arbeitsverträgen oder Verdrängung durch Auflösung aus wichtigem Grund? wbl 2016, 485 ff). So vertreten im Besonderen F. Bydlinski (Arbeitsrechtskodifikation und allgemeines Zivilrecht 109 f) und Spielbüchler (in Floretta/Spielbüchler/Strasser, Arbeitsrecht I4 141 f) die Ansicht, dass grundsätzlich eine (rückwirkende) Anfechtung möglich sei und dem Anfechtungsberechtigten ein Wahlrecht, wie (ob nach zivilrechtlichen oder arbeitsrechtlichen Regelungen) er seinen Arbeitsvertrag auflösen möchte, zustehen müsse.

In Kapitel eins dieser Monographie werden vor allem einführende Überlegungen angestellt und Grundlagen, wie die Qualifikation des Arbeitsvertrages und seine Stellung in der Rechtsordnung, die Merkmale und Besonderheiten des Arbeitsvertrages, aber auch die zivilrechtlichen Regelungen der Irrtums- und Listanfechtung erörtert. Hier wird der arbeitsrechtliche Schwerpunkt der Darstellung ersichtlich, da man im ersten Kapitel eine tiefere Auseinandersetzung mit den zivilrechtlichen Grundlagen bzw in diesem Zusammenhang mit anderen zivilrechtlichen Dauerschuldverhältnissen, wie zB dem Mietverhältnis und den besonderen Regelungen des MRG, erwarten würde. Ein kurzer Vergleich zu letzterem fehlt jedoch nicht ganz, sondern wird an späterer Stelle (S 54 f) nachgereicht.

Tutschek setzt sich im zweiten Kapitel mit der Rsp und den einzelnen Lehrmeinungen sorgfältig auseinander und untersucht vor allem das Verhältnis von Anfechtungsrecht und dem Recht auf vorzeitige Auflösung aus wichtigem Grund. In diesem Zusammenhang werden zuerst die Entlassungs- und Austrittstatbestände mit Hilfe der Wortinterpretation (S 36 ff) analysiert, wobei die Autorin schlussendlich zum Ergebnis kommt, dass aufgrund der Begrifflichkeit nur bestimmte Fälle der List zur Auflösung aus wichtigem Grund berechtigen. Vor allem die Wortwahl in § 34 VBG („erschlichen“), § 82 lit a GewO 1859 („hintergangen“) und in § 122 ArbVG wie auch § 15 APSG („absichtlich“) deuten ihres Erachtens auf das Erfordernis einer listigen Vorgangsweise hin. Aber auch die Begriffe „in Irrtum versetzt“ (§ 82 lit a GewO 1859), „in Irrtum geführt“ (§ 31 TAG) und „irreführen“ (§ 32 TAG) seien auf ein (absichtliches) Verleiten zu einer falschen Annahme zurückzuführen, weshalb diese Wortgruppe ebenso der List entspreche. Weiters seien diese Tatbestände sehr eng gefasst und genau beschrieben. Mit Hilfe der systematisch-logischen Interpretation (S 41 ff) wird in einem nächsten Schritt das Spezialitätsverhältnis zwischen den Regelungen des allgemeinen Privatrechts und den Entlassungs- und Austrittsnormen genauer betrachtet und schlussgefolgert, dass eine Listanfechtung gem § 870 ABGB (nur) im Rahmen des engen Anwendungsbereiches der Entlassungs- und Austrittsnormen durch den Spezialitätsgrundsatz verdrängt werde. Tutschek (S 46) will demnach eine Listanfechtung (sowie eine Irrtumsanfechtung) nach den allgemeinen zivilrechtlichen Bestimmungen in jenen Fällen zulassen, die von den konkret normierten Sondertatbeständen nicht erfasst sind. Dem ist mE nicht zuzustimmen. Gerade die abschließende Aufzählung der Auflösungsgründe vor allem in § 82 GewO 1859 gibt, ebenso wie die explizite Anführung der möglichen Auflösung bei Vorliegen eines Irrtums bzw bei einer Täuschung, Anlass zur Annahme, dass der Gesetzgeber bei Vorliegen eines Willensmangels lediglich die Auflösung aus wichtigem Grund und eben nicht die Anfechtung des Arbeitsvertrages zulassen wollte. Es kann nicht Ziel des Gesetzgebers gewesen sein, Irrtumsfälle einer Anfechtung zugänglich zu machen, wohingegen bei List (die wohl eine härtere Rechtsfolge verlangen würde als Irrtum) in den konkreten Fällen eine arbeitsrechtliche Regelung zur Anwendung gelangt. Immerhin stellt eine Anfechtung aufgrund der zeitlich längeren Geltendmachung und der grundsätzlichen Rückwirkung – sollte man nicht eine ex nunc-Wirkung bei Dauerschuldverhältnissen annehmen – einen Nachteil für den AN dar. Dadurch würde lediglich auf den Vertrauensschutz des jeweiligen Vertragspartners abgestellt werden, anstatt auf die Schutzbedürftigkeit des AN und sein speziell untergeordnetes Verhältnis zum AG (Binder, Irrtumsanfechtung, Rücktritt und Eintritt einer Resolutivbedingung als besondere arbeitsvertragliche Beendigungsformen, in FS Barta 124). Eine vorzeitige Beendigung (diese würde auch durch eine Anfechtung mit ex nunc-Wirkung erreicht) wurde aber mE vom Gesetzgeber aufgrund der Schutzbedürftigkeit des AN nur bei Vorliegen spezieller Gründe, die wiederum an bestimmte Voraussetzungen wie die Unzumutbarkeit oder die Unverzüglichkeit der Geltendmachung gebunden sind, zugelassen, andernfalls steht das Mittel der Kündigung zur Verfügung. Tutschek ist jedoch der Ansicht (S 53), dass im Arbeitsrecht nicht von einer abschließenden Zahl von Beendigungsmöglichkeiten auszugehen sei, da das Gesetz neben Kündigung und Auflösung aus wichtigem Grund zusätzlich noch weitere Fälle der Beendigung kenne, wie zB Zeitablauf, Abweisung des Verlängerungsantrages einer Beschäftigungsbewilligung oder Entzug der Lehrbefugnis des Lehrherrn. In diesem Zusammenhang muss mE beachtet werden, dass eine Befristung grundsätzlich von beiden Seiten – sowohl AN als auch AG – vereinbart sein muss und es sich bei den anderen zwei Beispielen um Fälle der Nichtigkeit handelt, die zum Schutz des AN vor einer Rückabwicklung explizite Rechtsfolgen regeln sollen. Hinsichtlich des von Spielbüchler und F. Bydlinski argumentierten Wahlrechts führt Tutschek überzeugend (S 45) aus, dass in eben jenen Fällen, die eine Entlassung aufgrund von List zulassen, eine Anwendung der zivilrechtlichen Regelungen bezüglich der Anfechtung ausgeschlossen sei und daher auch ein Wahlrecht aufgrund des Spezialitätsgrundsatzes nicht zustehen könne. Nicht gefolgt werden kann ihrer Ansicht, dass ein Wahlrecht aber nicht generell auszuschließen sei, sondern ein solches bestehe, sofern Entlassungs- und Austrittsnormen eine Generalklausel enthalten und deren Tatbestandskataloge wiederum auch keine Listtatbestände berücksichtigen. Dieses Wahlrecht zwischen zivilrechtlichen und arbeitsrechtlichen Behelfen sei aber begrenzt und bestehe nur hinsichtlich jener (List-)Fallkonstellationen, die als Entlassungs- oder Austrittstatbestände bereits in anderen Gesetzen erfasst wurden (S 57).

In weiterer Folge verneint Tutschek – zu Recht – die Anfechtung bei Vorliegen einer besonders geschützten Eigenschaft, die einen besonderen Bestandschutz des AN nach sich zieht (S 63 ff). Auch in diesem Zusammenhang werden sowohl Literatur als auch Judikatur gründlich aufgearbeitet und schließlich überzeugend366ausgeführt, dass der besondere Bestandschutz nicht nur im Falle eines Willensmangels die geschützte Eigenschaft betreffend, sondern ganz generell die Anfechtung aus AN-Schutzgründen verhindere (S 74), da es ansonsten zu einer Umgehung des besonderen Bestandschutzes kommen könnte.

Schließlich werden in Kapitel drei noch Modifikationen der zivilrechtlichen Anfechtung im Arbeitsrecht, ua anhand von Fallbeispielen, erörtert. Es zeichnet sich klar ab, dass sich die rein zivilrechtlichen von den arbeitsrechtlichen Lösungen unterscheiden. Einerseits wird hier auf den Zeitpunkt der Geltendmachung hingewiesen, der bei Willensmängeln immerhin bis zu 30 Jahre (List) bzw zumindest drei Jahre (Irrtum) nach Vertragsabschluss liegen kann, wohingegen im Arbeitsrecht der Unverzüglichkeitsgrundsatz vorherrschend ist. Tutschek argumentiert in diesem Zusammenhang, dass aufgrund der besonderen Vertrauensbeziehung zwischen AN und AG und aufgrund des synallagmatischen Charakters des Arbeitsverhältnisses auch im Falle der Anfechtung der Unverzüglichkeitsgrundsatz gelte und demnach nicht die „lange“ zivilrechtliche Verjährungsfrist ausschlaggebend sei (S 87). Ein weiterer Unterschied zwischen arbeitsrechtlicher und zivilrechtlicher Lösung bei Vorliegen eines Willensmangels liegt grundsätzlich in der Rückwirkung der Anfechtung. Eine ex tunc-Wirkung sei dem Arbeitsrecht fremd, da dieses Rechtsgebiet stets die Beendigung des Arbeitsvertrages für die Zukunft im Blick habe (S 100). Als erstes Argument gegen eine ex tunc-Wirkung sei nach Tutschek das faktische Bestehen eines Arbeitsverhältnisses anzuführen, so habe die vertragliche Beziehung zwischen AN und AG grundsätzlich bis zur Anfechtung bestanden. Weiters sei der AN-Schutz als Argument gegen eine ex tunc-Wirkung zu nennen, der vor allem aufgrund der Schwierigkeiten der Leistungsbewertung wie auch im Zusammenhang mit den Auswirkungen im Steuer- und Sozialversicherungsrecht eine Rückabwicklung verhindern wolle. Schließlich sei als drittes vorzubringen, dass der dem Arbeitsrecht immanente Vertrauensgrundsatz für die Zukunft des Arbeitsverhältnisses gelte und daher zweifellos auch für die Vergangenheit herangezogen werden müsse. Zuletzt weist Tutschek noch auf den Rückgriff des § 1431 ABGB auf den typisch arbeitsrechtlichen § 1152 ABGB hin und schließt daraus, dass eine ex nunc-Wirkung einleuchtender sei als eine Rückabwicklung, die schlussendlich wieder auf § 1152 ABGB zurückgreife (S 102).

Sollte man die Möglichkeit einer zivilrechtlichen Anfechtung von Arbeitsverträgen bejahen, ist das Ergebnis (und dementsprechend die Rechtsfolgen für das Arbeitsverhältnis) zweifellos sehr begrüßenswert.

Abschließend ist daher festzuhalten, dass der Autorin mit dem vorliegenden Buch in jedem Fall eine wissenschaftlich fundierte und kritische Auseinandersetzung mit dem Thema gelungen ist. Daher kann das Buch jedem wärmstens empfohlen werden, der sich mit dem Spannungsverhältnis zwischen zivilrechtlicher Anfechtung und arbeitsrechtlichen Beendigungsmöglichkeiten auseinandersetzen möchte.