SelzerArbeitnehmersolidarkassen im Betrieb

Duncker & Humblot Verlag, Berlin 2017, 224 Seiten, € 82,20

MARTAJ.GLOWACKA (WIEN)

Das vorliegende Werk wurde an der Juristischen Fakultät der Ludwig-Maximilians-Universität München als Dissertation angenommen. Es stammt aus der Feder von Dirk Selzer, einem literarisch erfahrenen wissenschaftlichen Mitarbeiter des Zentrums für Arbeitsbeziehungen und Arbeitsrecht (ZAAR) in München, und wurde von Prof. Dr. Richard Giesen betreut.

Thematisch setzt sich der Autor mit einem in Deutschland recht verbreiteten Phänomen auseinander, das – obwohl es bereits Mitte des 18. Jahrhunderts aufgetreten ist – rechtlich noch nicht hinreichend gewürdigt worden war. Denn in der bisherigen Literatur fanden bisher überwiegend Sozialeinrichtungen des AG Beachtung. In Abgrenzung dazu versteht Selzer AN-Solidarkassen als Zusammenschlüsse von AN in einem Betrieb zur gegenseitigen Unterstützung (in Notfällen oder bei sonstigen Ereignissen wie zB Hochzeiten, Geburten etc).

Das erste Kapitel (§ 1) setzt sich mit der AN-Solidarität im Betrieb und sozialen Kassen auseinander, geht dabei auf die Struktur einer Solidarkasse ein und kategorisiert die unterschiedlichen Kassenmodelle (zB Darlehens-, Sport-, Geburtstagskassen). Als wichtigstes Beispiel wird dabei die Sterbekasse hervorgehoben. Am bedeutendsten erscheint die Abgrenzung von (reinen) AG-Sozialkassen bzw die Qualifizierung von „Mischformen“ (zB eine vom AG errichtete und verwaltete, aber von der Belegschaft finanzierte Kasse). Der Autor stellt zuallererst die bisherigen Erkenntnisse in Schrifttum und Rsp zu sogenannten Selbsthilfeeinrichtungen, worunter soziale Kassen der AN verstanden werden, dar und gelangt zu der Auffassung, dass der Begriff AN-Solidarkasse den Untersuchungsgegenstand besser trifft. Der Autor beschränkt seine Analyse auf die Betriebsebene, unternehmens- oder konzernweite Solidarkassen bleiben außer Betracht. Selzer hält allerdings fest, dass die Ergebnisse auf ebendiese überbetriebliche Ebene übertragen werden können und legt eine Rutsche zu einer möglichen zukünftigen Verifizierung dieser recht kurz abgehandelten Problematik.

Im nächsten Kapitel (§ 2) wird die Einordnung der AN-Solidarkassen in das Betriebsverfassungsrecht untersucht, nämlich in welchen Fällen derartige Kassen Mitbestimmungsrechte der betrieblichen Interessenvertreter auslösen. Solche entstehen laut Selzer, wenn die AN-Solidarkasse zugleich als Sozialeinrichtung eingestuft werden kann. Hierfür müssen die sozialen Vorteile für die AN zumindest zum Teil auf der Leistung von Mitteln des AG beruhen und zur Erreichung eines sozialen Zwecks auf Dauer angelegt sein. Das entscheidende Kriterium sei die Verteilungsmacht des AG. Diese Auffassung stützt der Autor nach Aufarbeitung von Rsp und Literatur zum Begriff der Sozialeinrichtung mit nachvollziehbaren Argumenten.

Selzer erarbeitet die praktisch bedeutsamsten Fallgruppen. Die konkrete Einordnung wirkt sich auf die Regelungsbefugnis aus. Denn während die einen Solidarkassen durch die Betriebsparteien per BV oder Regelungsabrede gestaltet werden können, handelt es sich bei anderen um arbeitnehmerautonom betriebene Solidarkassen. Zur Abgrenzung werden Kriterien diskutiert, die für die Beurteilung des Bestehens einer Sozialeinrichtung herangezogen werden können (zB Verteilungsmacht des AG) oder umgekehrt untauglich sind (zB Initiative zur Errichtung der Einrichtung).

Diese (den größten Teil der gegenständlichen Arbeit einnehmende) Auseinandersetzung zeigt die364Diffizilität der Abgrenzung. So konstatiert Selzer, dass Sozialeinrichtungen unabhängig von einer Finanzierung durch den AG möglich sind, obwohl das Mitbestimmungsrecht das Bestehen von Sozialleistungen des AG verlangt, die aber auch bei nicht vermögenswerten Sozialvorteilen gegeben sind. Besonders positiv hervorzuheben ist, dass der Autor im Anschluss an diese hochwissenschaftlichen Ausführungen Fallgruppen (am Beispiel der Sterbekasse) bildet, um die Einordnung im Einzelfall zu ermöglichen. Dies erscheint insofern bedeutend, als die Frage der Mitbestimmungspflicht eine ex ante zu beantwortende ist.

Konkret sind die Mitbestimmungsrechte nach § 87 Abs 1 Nr 8, Nr 10 und § 88 Nr 2 BetrVG betroffen. Bei ersteren handelt es sich zum einen um die verpflichtende Einbindung des BR bei Form, Ausgestaltung und Verwaltung von Sozialeinrichtungen sowie Fragen der betrieblichen Lohngestaltung zum anderen – dh das „Wie“ der Sozialleistung. In Abgrenzung zu Nr 10 leg cit wird bei Nr 8 leg cit eine betriebsverfassungsrechtlich selbständige organisatorische Einheit geschaffen. § 88 Nr 2 BetrVG hingegen normiert die fakultative Ermächtigung zum Abschluss einer BV über die Errichtung von Sozialeinrichtungen, deren Wirkungsbereich auf den Betrieb, das Unternehmen oder den Konzern beschränkt ist – dh das „Ob“.

Das österreichische Pendant hierzu findet sich in den §§ 93 und 95 iVm § 97 Abs 1 Z 5 und 19 ArbVG, die die Mitbestimmung bei Wohlfahrtseinrichtungen regeln. Hierunter ist – bei entsprechender Institutionalisierung – die Führung einer Unterstützungs- oder „Sterbekasse“ zu subsumieren (Reissner in Neumayr/Reissner [Hrsg], ZellKomm2 § 95 ArbVG Rz 9 mwN).

Eine umfassende Darstellung der gesetzlichen Regelungen über Wohlfahrtseinrichtungen nach den §§ 93 und 95 ArbVG bietet die 2009 beim ÖGB-Verlag veröffentlichte Arbeit von Dr. Ingrid Korenjak; hierauf sei daher verwiesen. Dabei werden nicht nur die Grenzen der Mitbestimmung des BR eruiert, sondern auch die kontrovers diskutierte Frage besprochen, inwieweit einzelvertragliche Ansprüche der AN auf Leistungen aus einer Wohlfahrtseinrichtung begründet werden können. Der Ausbau des hier zu besprechenden Werkes um diese Forschungsfrage hätte zwar zugegebenermaßen den Umfang gesprengt, allerdings um einen interessanten Aspekt erweitert.

Das dritte und vierte, jeweils vergleichsweise sehr kurze, Kapitel (§§ 3 und 4) in Selzers Arbeit erörtern die Einordnung in das Recht der betrieblichen Altersversorgung sowie im Versicherungsaufsichtsrecht. Selzer stellt fest, dass AN-Solidarkassen idR weder die Voraussetzungen der betrieblichen Altersvorsorge erfüllen noch ein versicherungsaufsichtspflichtiges Geschäft betreiben.

Das nächste Kapitel (§ 5) befasst sich mit der Einordnung in das Bürgerliche Recht. Selzer führt aus, welche Konstellationen zur Qualifizierung einer AN-Solidarkasse als Gesellschaft bürgerlichen Rechts (BGB-Gesellschaft) eines eingetragenen oder nicht rechtsfähigen Vereins oder als rechtsgeschäftliche Treuhand führen.

Das letzte Kapitel (§ 6) vor der Zusammenfassung der Ergebnisse (§ 7) erörtert die Einordnung in das Steuer- und Sozialversicherungsrecht. Demnach sind über die AN-Solidarkasse erbrachte Sozialleistungen grundsätzlich als Einkünfte aus nichtselbständiger Arbeit zu versteuern und als Arbeitsentgelt zu verbeitragen.

Dieses prima facie unscheinbare Thema bietet doch unverhofft einen überaus anregenden legistischen Diskurs. Es besteht kein Zweifel, dass es sich beim vorliegenden Buch um eine weit überdurchschnittliche Dissertation handelt.