Karasz (Hrsg)Migration und die Macht der Forschung

Verlag des ÖGB, Wien 2017, 308 Seiten, kartoniert, € 29,90

ULRIKEBRANDL (SALZBURG)

Die Idee zum vorliegenden interdisziplinären Buchprojekt wurde im Jahr 2015 geboren und damit in einer Zeit konzipiert, in der Österreich und auch Europa insgesamt einen deutlich erhöhten Zugang von AntragstellerInnen auf internationalen Schutz verzeichneten. Die neue Migrationssituation führte zu vielfältigen Reaktionen und auch zu einem Wandel in der Aufnahmebereitschaft der Gesellschaft. Verschärfungen der Asyl- und Fremdengesetze, Maßnahmen, die Zahl der Neuzugänge zu reduzieren, Schließungen von Fluchtrouten, Forderungen nach Integration und Achtung der Werte der Aufnahmegesellschaften und auch fremdenrechtliche Änderungen aus sicherheitspolitischen Argumenten sind einige Beispiele. Die situationsbedingten361Reaktionen und die heftigen und kontrovers geführten Debatten über die Notwendigkeit einer Begrenzung der Migration führten die AutorInnen und HerausgeberInnen zur Idee, die Rolle der Migrationsforschung in dieser Entwicklung zu untersuchen. Wie im Vorwort treffend dargelegt wird, führte die vermehrte Bezugnahme auf ExpertInnen nicht nur zu einer Vertiefung der Diskussion, sondern auch zu einer „Verflachung und Vereinfachung des Themas“ (S 7, mit Bezugnahme auf den Beitrag von Ruth Wodak).

Die vorliegende Publikation widmet sich der Thematik Migrationsforschung aus verschiedenen Blickwinkeln. Sie setzt sich zum Ziel, die Bedeutung einer kritischen Migrationsforschung durch wissenschaftliche Beiträge zu untermauern, welche die komplexen Zusammenhänge des tagespolitischen Geschehens mit langfristigen Entwicklungen der Migrationsgesellschaft aufzeigen und diese analysieren.

Der Sammelband umfasst 16 Beiträge, die sich der Thematik Migrationsforschung und ihrer Bedeutung aus der Sicht unterschiedlicher Disziplinen der Sozialwissenschaft widmen. Eine Besprechung des Bandes, die umfangmäßig beschränkt bleiben muss, kann daher die Publikation allgemein rezensieren, alle Beiträge kurz skizzieren oder einzelne Beiträge herausgreifen. Hier wurde die zweite Variante gewählt, was dazu führt, dass eine ausführliche Besprechung der einzelnen Beiträge unterbleiben muss. Es werden jedoch kurze, markante Zitate oder Schlussfolgerungen aus den Beiträgen ausgewählt, womit die Absicht verbunden ist, über eine bloß referierende Aufzählung hinauszugehen und den Wert der Beiträge zu würdigen.

Erol Yildiz kreiert den Begriff der „postmigrantischen“ Migrationsforschung, die den Blick für eine offene Diskussion bereitet und das Ordnungsmuster „wir und die Anderen“ (S 20) aus den Fugen geraten lässt. Sylvia Hahn zeigt durch einprägsame Beispiele die Bedeutung der historischen Migrationsforschung auf. Ruth Wodak untersucht die Rolle von ExpertInnen in der Migrationsdebatte. Wie einfach eine Instrumentalisierung von ExpertInnen ist, wird dem Leser deutlich vor Augen geführt. Der nächste umfangreiche Beitrag mit einem rechtsvergleichenden Teil von Albert Kraler und Bernhard Perchingig behandelt die Nahebeziehung von Politik und Forschung in den Bereichen Migration, Integration und Asyl. Gerhard Hetfleisch wirft einen kritischen Blick auf die Frage, wieweit Migrationsforschung zur Legitimation von politisch erwünschten Handlungen herangezogen wird und dadurch Wissenschaftler zu „Schleppenträgern der Herrschenden“ macht (S 101).

Der Aufsatz von Inci Dirim beleuchtet die migrationspädagogische Forschung. Rainer Bauböck stellt die Frage der demokratischen Repräsentation in mobilen Gesellschaften. Seine interessante Schlussfolgerung, dass Nationalismus und Staatsbezogenheit nicht vollständig durch „methodischen Migrantismus“ zu ersetzen sind, regt die Phantasie des Lesers besonders an. Er plädiert für eine Suche nach institutionellen Lösungen bei der Frage der demokratischen Repräsentation von MigrantInnen. Radostin Kaloianov analysiert die spannende Thematik des Einflusses von Migrationsforschung auf MigrantInnen und ihr Selbstverständnis. Assimina Gouma betrachtet das Thema aus dem Blickwinkel der Kommunikationswissenschaft. Die Rolle der Medien im „langen Sommer der Migration (S 163, Zitat von Hesset al [2016]) und der Zusammenhang der Berichterstattung mit dem Management der Migration ist ein weiteres lohendes Thema aus der breiten Vielfalt des Sammelbandes.

Annette Sprung, Brigitte Kukovetz und Rüdiger Tinauer zeigen reale Entwicklungen im Jahr 2015 auf. Mit der plötzlich ansteigenden Zahl von AntragstellerInnen auf internationalen Schutz formierten sich vielfältige Initiativen in der Zivilgesellschaft, um die Ankommenden zu unterstützen. In diesem Beitrag werden die Aktivitäten in den Kontext des Begriffes Solidarität gestellt. Astrid Mattes behandelt den Bezug zwischen Religion und Integration. Sie stellt interessante Perspektiven zur Überwindung des Religionsfokus in der Integrationspolitik dar. Paul Scheiblhofer führt dem Leser deutlich vor Augen, dass fremde Männlichkeit als Ressource genützt wird, um Geflüchtete als eine Gefahr für die Gesellschaft darzustellen (S 209). Der nächste Beitrag der Autorinnen Katharina Hametner, Gabriele Kielhorn, Isabel Prado Jacob, Natalie Rodax und Katharina Steinicke stellt das Bild der muslimischen Frau in österreichischen Frauenzeitschriften in den Mittelpunkt der Analyse. Sara de Jong schreibt über die Möglichkeiten der Integration von Flüchtlingen in den Arbeitsmarkt. Jelena Stanisic stellt in ihrem Beitrag die Wechselwirkungen zwischen „Migrationshintergrund“ und „Hochbegabung“ dar. Sie zeigt, dass eine vordergründig nicht benachteiligte Kategorie von Personen Auswirkungen des Migrationshintergrundes ebenso zu vergegenwärtigen hat.

Der Schlussbeitrag ist ein kollektiv zusammengestellter Text, eine „Kollage aus früheren und aktuellen Reflexionen“ (S 283, FN 1). Der Text spricht gegen eine Viktimisierung. Der Migrant soll nicht als handlungsunfähig eingestuft werden, sondern selbstbewusster Protagonist sein.

In dieser Publikation wird gehalten, was der Titel verspricht. Die Macht der Forschung wird für die verschiedenen Disziplinen und aus divergierenden Blickwinkeln dargelegt. Die Unterschiede und Gemeinsamkeiten zwischen den Fächern machen die Lektüre interessant, zahlreiche Denkanstöße, Lösungsansätze und wertvolle Beiträge für künftige Forschung werden geboten. Den AutorInnen ist es gelungen, zur aktuellen Migrationsdebatte objektive, auch für die spätere Entwicklung nützliche, qualitativ hochwertige Beiträge beizusteuern.