Mesch/Brait (Hrsg)Der Wandel des industriepolitischen Leitbilds der Arbeiterbewegung

Verlag des ÖGB, Wien 2017, 136 Seiten, kartoniert, € 19,90

HANSKERNBAUER (WIEN)

In der Reihe „Ökonomik der Arbeiterbewegung in der Nachkriegszeit“ sind von Michael Mesch und Romana Brait als Band 3 die Beiträge zu einer Veranstaltung im November 2016, die sich mit der österreichischen Industriepolitik der Zweiten Republik befasste, herausgegeben worden. Die Aufsätze behandeln allgemeine Aspekte der Industriepolitik Österreichs, die von den industriepolitischen Vorstellungen der Arbeiterbewegung, der SPÖ und der Gewerkschaften, im Rahmen der Bundesregierung und der Sozialpartnerschaft mitgestaltet wurden. Nur in der Periode der Alleinregierung von 1970 bis 1983 war die Industriepolitik maßgeblich an den Vorstellungen von Partei und Gewerkschaften orientiert.

Kurt Bayer beschäftigt sich in seinem Beitrag mit „Sechzig Jahre österreichische Industriepolitik“. Er definiert „Industriepolitik“ als alle Maßnahmen des Staates, die den wirtschaftlichen Erfolg von Unternehmen des industriell-gewerblichen Sektors (inklusive der damit verbundenen Dienstleistungen) sicherstellen sollen. In Österreich ist der Anteil der Industrie am nominellen Brutto-Inlandsprodukt von knapp 27 % im Jahr 1960 auf etwas über 16 % 2014 gesunken. Ein Vergleich mit der BRD, Frankreich, Großbritannien, der EU-15 und den USA zeigt, dass 2014 der Industrieanteil am BIP allein in der BRD mit 20 % höher war als in Österreich, in Frankreich lag er nur bei 8,5 %. Der Rückgang des nominellen Industrieanteils am BIP ist auf den größeren Anstieg der Produktivität im produzierenden Sektor zurückzuführen, was unter Wettbewerbsbedingungen zu einem Sinken der relativen Preise von Industriegütern führt. In realer, preisbereinigter Rechnung, ist der Beitrag der Industrie zur gesamtwirtschaftlichen Wertschöpfung in den letzten 60 Jahren etwa gleich geblieben.

Bayer unterteilt die Entwicklung der Industrieproduktion und der Industriepolitik im Zeitraum von 1955 bis 2015 in sechs Phasen: 1. Wiederaufbau, 1955 bis 1973; 2. branchenorientierte Investitionsförderung, 1973 bis 1980; 3. Innovationsorientierung durch „horizontale“ Industriepolitik, 1980 bis 1990; 4. Konzentration auf strategische Kontrolle und Finanzierung, 1990 bis 1995; 5. Verfügungsrechte, Innovation, Auslagerung, 1995 bis 2008; 6. Renaissance der „horizontalen“ Industriepolitik, seit 2008. Als Kriterien für diese Periodisierung führt der Autor die Publikation entsprechender Studien des Beirats für Wirtschafts- und Sozialfragen, den EU-Beitritt und den Beginn der Wirtschafts- und Finanzkrise an, geht aber nicht näher auf den Zusammenhang von Beiratsstudien, industriepolitischen Maßnahmen der Regierung und deren Auswirkungen auf die Industrieproduktion ein und auf die Frage, welche Initiativen auf Repräsentanten und Institutionen der Arbeiterbewegung zurückzuführen waren.

Das relativ stärkere Produktivitätswachstum in der Industrie, verglichen mit anderen Wirtschaftssektoren, ist zu einem beträchtlichen Teil auf anwendungsorientierte Forschungs- und Entwicklungsaktivitäten zurückzuführen. Eine Bestandsaufnahme der Industrieforschung in Österreich legte 1965 Theodor Prager, Mitarbeiter der wirtschaftswissenschaftlichen Abteilung der Arbeiterkammer, vor. Mit dieser Studie und dem forschungspolitischen Umfeld in Österreich zur Mitte der 1960er-Jahre beschäftigt sich der Beitrag von Andreas Resch „Theodor Prager und die AK-Studie ‚Forschung und Entwicklung in Österreich‘ (1965). Frühe Argumente für eine staatliche Forschungspolitik.“ Resch fasst die wichtigsten Aussagen dieser Pionierstudie zusammen und geht auch auf die weitere Entwicklung der Forschungsaktivitäten nach dem Erscheinen von Prager‘s Buch ein. Die Ausgaben für Forschung und Entwicklung, die in langfristiger Betrachtung ein wesentlicher wirtschaftlicher Wachstumsfaktor sind, waren zu Beginn der 1960er-Jahre in Österreich mit 0,3 % des BIP – aus verständlichen Gründen – noch relativ gering. Um den Entwicklungsrückstand Österreichs zu verringern, setzte die Politik zu Recht primär auf die Förderung von Investitionen durch Steuerbegünstigungen und die Bereitstellung zinsgestützter Finanzierungsmöglichkeiten: Moderne Maschinen und Ausrüstungsgegenstände wurden überwiegend aus dem Ausland importiert. Es war meiner Meinung nach auch kein Politikversagen, wie eine 1952 von der OEEC erstellte Studie betonte, dass Österreich zu diesem Zeitpunkt nur geringe Mittel der Industrieforschung widmete, denn erst 1950 hatte das reale BIP Österreichs das Niveau von 1913 überschritten. Eine Modernisierung des Kapitalstocks war effizienter als durch eigene Forschungsanstrengungen durch die Einfuhr von Investitionsgütern zu erreichen.

Ferdinand Lacina widmet sich in seinem Beitrag „Industriepolitik der Arbeiterbewegung“ vornehmlich der Entwicklung der verstaatlichten Industrie. Die Verstaatlichung von Unternehmen der Grundstoffindustrie, des produzierenden Gewerbes und der Banken erfolgte mit Zustimmung des konservativen Lagers, um den Zugriff der Alliierten auf „deutsches Eigentum“ gemäß den Beschlüssen in Potsdam für Reparationszahlungen zu verhindern und auch deshalb, weil privates Kapital für die Rekonstruktion dieser Unternehmen nicht in ausreichendem Maß zur Verfügung stand.

Die verstaatlichte Industrie war hauptsächlich im Grundstoffbereich tätig, sie lieferte an private Verarbeitungsbetriebe in Österreich zu günstigen, de facto zu subventionierten Preisen. Eine Erweiterung ihrer Produktpalette stieß auf energischen politischen Widerstand, was sich, so Lacina, „in späterer Zeit als erheblicher Wettbewerbsnachteil herausstellen sollte“. Die verstaatlichte Industrie erzielte beachtliche Exporterfolge, auch im Anlagenbau, in Ländern des Ostblocks und der Dritten Welt und nach dem Abschluss des Freihandelsvertrages 1973 auch in der EWG. Nach Ausbruch der Krise der Grundstoffindustrien in der ersten Hälfte der 1970er-Jahre mussten auf Druck der EWG auch in Österreich Produktionskapazitäten der Eisen- und Stahlindustrie reduziert werden. Durch Maßnahmen357der Regional- und Ansiedlungspolitik versuchte die österreichische Regierung die arbeitsmarktpolitischen Auswirkungen auf diese Standorte abzufedern. Nach dem Beitritt zur Europäischen Gemeinschaft war eine gezielte wirtschaftspolitische Unterstützung der Industrie nicht mehr möglich, weil nach der herrschenden neoliberalen Auffassung der Markt allein auftretende Probleme lösen sollte.

Die grundlegende Reorganisation der verstaatlichten Industrie durch das vom Minister für öffentliche Wirtschaft und Verkehr, Ferdinand Lacina, ausgearbeitete ÖIAG-Gesetz vom April 1985 wird von Oskar Grünwald in seinem Beitrag mit dem Titel „Die Arbeiterbewegung und Strukturveränderungen in der verstaatlichten Industrie“ behandelt. Dieses Gesetz setzte die neuen Richtlinien der Regierung für die Verstaatlichte um: Vorrang für betriebswirtschaftliche Zielsetzungen, Verzicht auf Arbeitsplatzgarantien, Entpolitisierung der Managementebene, Beseitigung des Proporzes, Steuerung des Konzerns durch die ÖIAG. Das ÖIAG-Gesetz war eine Antwort auf die existenzbedrohende Lage der VOEST als Folge der allgemeinen Krise der Grundstoffindustrie, gravierender Managementfehler und hoher Verluste aus Spekulationsgeschäften. Eine Neuregelung der Organisationsstruktur der verstaatlichten Industrie war auch notwendig geworden, weil, wie man in Anlehnung an Bruno Kreisky feststellen muss, häufig eine Koalition aus Management, AN-Vertretern und lokalen Politikern so agierte, als ob der Betrieb ihr Eigentum wäre, wobei der Staat allfällige Verluste zu begleichen hatte. Grünwald zeichnet in seinem Aufsatz konzise die Entwicklung der verstaatlichen Industrie von der Periode des Wiederaufbaus bis zur umfassenden Privatisierung, beginnend in der zweiten Hälfte der 1980er-Jahre, nach.

Im letzten Beitrag des Bandes von Miron Passweg und Roland Lang geht es um die Frage, ob in der Europäischen Union in den letzten Jahren eine Renaissance der Industrie bzw der Industriepolitik zu beobachten ist. Nachdem lange Zeit in der EU-Bürokratie der Begriff „Industriepolitik“ verpönt war, taucht er in verschiedenen Mitteilungen neulich immer wieder auf. Das dürfte darauf zurückzuführen sein, dass Länder mit einer starken industriellen Basis die Finanz- und Wirtschaftskrise rascher überwinden konnten. In einer Mitteilung der Europäischen Kommission an das Parlament und den Rat heißt es entsprechend: „The crisis has underlined the importance of the real economy and a strong industry. Industry‘s interactions with the rest of Europe‘s economic fabric extend far beyond manufacturing, spanning upstream to raw materials and energy and downstream to business services (e.g. logistics), consumer services (e.g. after-sales services for durable goods) or tourism“ (COM/2014/014 final).

Konkrete Maßnahmen zur Stärkung der industriellen Basis der EU, etwa die Verankerung einer „goldenen Investitionsregel“, wurden allerdings noch nicht umgesetzt. In dem durchwegs interessanten Artikel gehen Passweg und Lang – wie bereits Bayer in seinem Beitrag – auch auf die Arbeiten von Mariana Mazzucato ein. Mazzucato hat überzeugend nachgewiesen, dass Forschungsaktivitäten, die zu bahnbrechenden Innovationen in der Informations- und Kommunikationstechnologie und in der Bio- und Nanotechnologie geführt haben, von staatlichen Stellen der USA angeregt und finanziell gefördert wurden. Die Rolle des Staates, so Passweg und Lang, müsse neu überdacht werden: „Die öffentliche Hand muss langfristig und auf Nachhaltigkeit bedacht, strategisch planen und dabei eigenständige Impulse durch Investitionen in Bildung, Forschung und Infrastruktur setzen.

Das kann vielleicht auch als aktuelles industriepolitisches Postulat der Arbeiterbewegung gelten, nachdem sich die direkte staatliche Kontrolle von Industrieunternehmen langfristig als wenig effizient herausgestellt hat. Die in diesem Band versammelten Beiträge geben einen guten Überblick über die Industriepolitik in der Zweiten Republik und enthalten Vorschläge zur Stärkung des produzierenden Sektors als Kern einer wettbewerbsfähigen Volkswirtschaft.