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Keine Verjährung des Urlaubsanspruchs bei Verweigerung des Urlaubskonsums durch den/die AG wegen „Scheinselbständigkeit“*

§§ 2, 4, 10 UrlG; Art 7 RL 2003/88/EG
  1. AN, die ihren bezahlten Jahresurlaub aus von ihrem Willen unabhängigen Gründen nicht vor Ende des Arbeitsverhältnisses verbrauchen konnten, haben Anspruch auf eine finanzielle Vergütung gem Art 7 Abs 2 RL 2003/88.

  2. Siehe dazu den Besprechungsaufsatz von Auer-Mayer, (Keine) Verjährung arbeitsrechtlicher Ansprüche? – Analyse der Entscheidung EuGH Rs C-214/16, King, und ihrer möglichen Folgen, in diesem Heft, DRdA 2018, 299 ff.

  3. Ein Irrtum des/der AG über das Nichtbestehen des Urlaubsanspruchs ist unerheblich, da es diesem/dieser obliegt, sich umfassend über seine/ihre Verpflichtungen zu informieren.

Ausgangsverfahren und Vorlagefragen

[...]

14 Herr King arbeitete für Sash WW vom 1.6.1999 bis zu seinem Eintritt in den Ruhestand am 6.10.2012 auf der Basis eines „Selbständigen-Vertrags ausschließlich gegen Provision“ [...].

15 Bei Beendigung seines Arbeitsverhältnisses verlangte Herr King von seinem AG die Zahlung einer Vergütung sowohl für genommenen, aber nicht bezahlten, als auch für nicht genommenen Jahresurlaub für den gesamten Zeitraum seiner Beschäftigung, dh für die Zeit vom 1.6.1999 bis zum 6.10.2012 [...].

19 Vor dem vorlegenden Gericht, dem Court of Appeal [...], ist nunmehr unstreitig, dass Herr King „Arbeitnehmer“ iSd RL 2003/88 ist [...].

21 Herr King ist [...] der Auffassung, dass seine Ansprüche auf bezahlten Jahresurlaub, den er deshalb nicht genommen habe, weil der AG ihn nicht vergütet habe, [...] auf das nächste Bezugsjahr und anschließend bis zum Zeitpunkt der Beendigung des Arbeitsverhältnisses jeweils auf das nachfolgende Jahr übertragen worden seien. Unter Berufung auf das Urteil vom 20.1.2009, Schultz-Hoff ua (C-350/06 und C-520/06, EU:C:2009:18), macht Herr King geltend, dass der Anspruch auf eine Vergütung für nicht genommenen bezahlten Jahresurlaub erst am Ende des Arbeitsverhältnisses entstanden und seine Klage damit fristgerecht erhoben worden sei.

22 Das vorlegende Gericht, das feststellt, dass das Recht des Vereinigten Königreichs eine Übertragung von Jahresurlaub über den Bezugszeitraum, für den der Urlaub gewährt sei, hinaus nicht zulasse und nicht unbedingt einen wirksamen Rechtsbehelf bei einem Verstoß gegen Art 7 der RL 2003/88 vorsehe, ist nicht sicher, wie das für die Entscheidung des bei ihm anhängigen Rechtsstreits maßgebliche Unionsrecht auszulegen ist [...].353

24 Unter diesen Umständen hat der Court of Appeal [...] beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen vorzulegen:

  1. Ist es im Fall einer Streitigkeit zwischen einem AN und einem AG über die Frage, ob der AN Anspruch auf bezahlten Jahresurlaub gem Art 7 der RL 2003/88 hat, mit dem Unionsrecht und insb mit dem Grundsatz eines wirksamen Rechtsbehelfs vereinbar, wenn der AN zunächst Urlaub nehmen muss, ehe er feststellen kann, ob er Anspruch auf Bezahlung hat?

  2. Wenn der AN den ihm zustehenden Jahresurlaub in dem Bezugszeitraum, in dem ein Anspruch auszuüben ist, ganz oder teilweise nicht nimmt, den Urlaub aber genommen hätte, wenn nicht der AG die Vergütung für genommene Urlaubszeiten verweigern würde, kann dann der AN geltend machen, dass er an der Ausübung seines Anspruchs auf bezahlten Urlaub gehindert ist, so dass der Anspruch so lange übertragen wird, bis der AN die Möglichkeit zur Ausübung des Anspruchs hat?

  3. Wenn der Anspruch übertragen wird, erfolgt die Übertragung dann zeitlich unbegrenzt oder gilt ein begrenzter Zeitraum für die Ausübung des übertragenen Anspruchs in Entsprechung zu den Grenzen, die vorgesehen sind, wenn der AN den Urlaubsanspruch im betreffenden Bezugszeitraum wegen Krankheit nicht ausüben kann?

  4. Wenn es keine gesetzliche oder vertragliche Bestimmung zur Festlegung eines Übertragungszeitraums gibt, ist dann das Gericht zur Festsetzung einer Grenze für den Übertragungszeitraum verpflichtet, um sicherzustellen, dass die Anwendung der nationalen Rechtsvorschriften über die Arbeitszeit nicht den mit Art 7 der RL 2003/88 verfolgten Zweck verfälscht?

  5. Ist in diesem Fall ein Zeitraum von 18 Monaten nach dem Ende des Urlaubsjahres, in dem der Urlaub erworben wurde, mit dem Anspruch aus Art 7 der RL 2003/88 vereinbar? [...]

Zur ersten Frage [...]

32 Insoweit ist erstens darauf hinzuweisen, dass jeder AN, wie sich bereits aus dem Wortlaut von Art 7 Abs 1 der RL 2003/88 ergibt – einer Bestimmung, von der diese RL keine Abweichung zulässt –, Anspruch auf einen bezahlten Mindestjahresurlaub von vier Wochen hat. Dieser Anspruch auf bezahlten Jahresurlaub ist als ein besonders bedeutsamer Grundsatz des Sozialrechts der Union anzusehen, dessen Umsetzung durch die zuständigen nationalen Stellen nur in den Grenzen erfolgen kann, die in der RL 2003/88 selbst ausdrücklich vorgesehen sind (Urteil vom 30.6.2016, Sobczyszyn, C-178/15, EU:C:2016:502, Rn 19 und die dort angeführte Rsp).

33 Zweitens ist festzustellen, dass der Anspruch auf bezahlten Jahresurlaub in Art 31 Abs 2 der Charta, der von Art 6 Abs 1 EUV der gleiche rechtliche Rang wie den Verträgen zuerkannt wird, ausdrücklich verankert ist (Urteil vom 22.11.2011, KHS, C-214/10, EU:C:2011:761, Rn 37).

34 Drittens ergibt sich aus dem Wortlaut der RL 2003/88 und der Rsp des Gerichtshofs, dass es zwar Sache der Mitgliedstaaten ist, die Voraussetzungen für die Ausübung und die Umsetzung des Anspruchs auf bezahlten Jahresurlaub festzulegen, sie dabei aber nicht bereits die Entstehung dieses sich unmittelbar aus der RL ergebenden Anspruchs von irgendeiner Voraussetzung abhängig machen dürfen (vgl in diesem Sinne Urteil vom 20.1.2009, Schultz-Hoff ua, C-350/06 und C-520/06, EU:C:2009:18, Rn 28).

35 Viertens geht aus der Rsp des Gerichtshofs ebenfalls hervor, dass die RL 2003/88 den Anspruch auf Jahresurlaub und den auf Zahlung des Urlaubsentgelts als zwei Aspekte eines einzigen Anspruchs behandelt. Durch das Erfordernis der Zahlung dieses Urlaubsentgelts soll der AN während des Jahresurlaubs in eine Lage versetzt werden, die in Bezug auf das Entgelt mit den Zeiten geleisteter Arbeit vergleichbar ist (vgl Urteil vom 22.5.2014, Lock, C-539/12, EU:C:2014:351, Rn 17 und die dort angeführte Rsp) [...].

38 Jedoch wäre [...] ein AN, der mit Umständen konfrontiert ist, die geeignet sind, während seines Jahresurlaubs Unsicherheit in Bezug auf das ihm geschuldete Entgelt auszulösen, nicht in der Lage, diesen Urlaub voll und ganz als Zeitraum für Entspannung und Freizeit gem Art 7 der RL 2003/88 zu genießen.

39 Solche Umstände können den AN außerdem davon abhalten, seinen Jahresurlaub zu nehmen. Insoweit ist festzustellen, dass auch jede Praxis oder Unterlassung eines AG, die den AN davon abhalten kann, den Jahresurlaub zu nehmen, gegen das mit dem Recht auf Jahresurlaub verfolgte Ziel verstößt (vgl in diesem Sinne Urteil vom 22.5.2014, Lock, C-539/12, EU:C:2014:351, Rn 23 und die dort angeführte Rsp) [...].

41 Was die Rechtswege betrifft, die dem AN im Fall einer Streitigkeit mit dem AG offenstehen müssen, um seinen Anspruch auf bezahlten Jahresurlaub gemäß der RL 2003/88 geltend machen zu können, so enthält diese RL zwar hierzu keinerlei Bestimmungen. Es steht jedoch fest, dass die Mitgliedstaaten in diesem Zusammenhang die Beachtung des in Art 47 der Charta verankerten Rechts auf einen wirksamen Rechtsbehelf gewährleisten müssen (vgl entsprechend Urteil vom 15.9.2016, Star Storage ua, C-439/14 und C-488/14, EU:C:2016:688, Rn 46) [...].

47 Nach alledem ist auf die erste Frage zu antworten, dass Art 7 der RL 2003/88 und das in Art 47 der Charta verankerte Recht auf einen wirksamen Rechtsbehelf dahin auszulegen sind, dass sie es im Fall einer Streitigkeit zwischen einem AN und seinem AG über die Frage, ob der AN Anspruch auf bezahlten Jahresurlaub gemäß der erstgenannten Vorschrift hat, verbieten, dass der AN seinen Urlaub zunächst nehmen muss, ehe er feststellen kann, ob er für diesen Urlaub Anspruch auf Bezahlung hat.

Zu den Fragen zwei bis fünf [...]

50 Im vorliegenden Fall hat Herr King seinen Anspruch auf bezahlten Jahresurlaub aber gerade aus von seinem Willen unabhängigen Gründen vor seinem Eintritt in den Ruhestand nicht ausgeübt. Insoweit ist klarzustellen, dass es für die Beantwortung der vorliegenden Vorabentscheidungsfragen354unerheblich ist, ob der Betroffene [...] einen anderen Vertrag hätte annehmen können, der einen Anspruch auf bezahlten Jahresurlaub vorsah [...].

51 Somit ist erstens darauf hinzuweisen, dass die RL 2003/88 es den Mitgliedstaaten weder erlaubt, die Entstehung des Anspruchs auf bezahlten Jahresurlaub auszuschließen, noch vorzusehen, dass der Anspruch auf bezahlten Jahresurlaub eines an der Ausübung dieses Anspruchs gehinderten AN nach Ablauf des Bezugszeitraums und/oder eines im nationalen Recht festgelegten Übertragungszeitraums erlischt (Urteil vom 20.1.2009, Schultz-Hoff ua, C-350/06 und C-520/06, EU:C:2009:18, Rn 47 und 48 sowie die dort angeführte Rsp).

52 Darüber hinaus geht aus der Rsp des Gerichtshofs hervor, dass ein AN, der aus von seinem Willen unabhängigen Gründen nicht in der Lage war, seinen Anspruch auf bezahlten Jahresurlaub vor dem Ende des Arbeitsverhältnisses auszuüben, Anspruch auf eine finanzielle Vergütung gem Art 7 Abs 2 der RL 2003/88 hat [...].

55 Unter den besonderen Umständen, dass ein AN während mehrerer Bezugszeiträume in Folge arbeitsunfähig ist, hat der Gerichtshof also mit Blick nicht nur auf den Schutz des AN, den die RL 2003/88 bezweckt, sondern auch auf den des AG, der sich der Gefahr der Ansammlung von zu langen Abwesenheitszeiten des AN und den Schwierigkeiten, die sich daraus für die Arbeitsorganisation ergeben können, ausgesetzt sieht, entschieden, dass Art 7 dieser RL dahin auszulegen ist, dass er einzelstaatlichen Rechtsvorschriften oder Gepflogenheiten nicht entgegensteht, die die Möglichkeit für einen während mehrerer Bezugszeiträume in Folge arbeitsunfähigen AN, Ansprüche auf bezahlten Jahresurlaub anzusammeln, dadurch einschränken, dass sie einen Übertragungszeitraum von 15 Monaten vorsehen, nach dessen Ablauf der Anspruch auf bezahlten Jahresurlaub erlischt (vgl in diesem Sinne Urteil vom 22.11.2011, KHS, C-214/10, EU:C:2011:761, Rn 38, 39 und 44) [...].

59 Unter Umständen wie den im Ausgangsverfahren in Rede stehenden erscheint aber ein Schutz der Interessen des AG nicht zwingend notwendig und vermag daher ein Abweichen vom Anspruch des AN auf bezahlten Jahresurlaub nicht zu rechtfertigen.

60 Es ist nämlich festzustellen, dass die Beurteilung des Anspruchs eines AN wie Herr King auf bezahlten Jahresurlaub nicht mit einer Situation in Zusammenhang steht, in der sein AG mit Abwesenheitszeiten von Herrn King konfrontiert gewesen wäre, aus denen sich – wie bei einer Krankschreibung von langer Dauer – Schwierigkeiten für die Arbeitsorganisation ergeben hätten. Der AG konnte vielmehr bis zum Eintritt seines AN in den Ruhestand davon profitieren, dass dieser seine berufliche Tätigkeit bei ihm nicht unterbrochen hat, um bezahlten Jahresurlaub zu nehmen.

61 Zweitens ist der Umstand, dass Sash WW irrtümlich davon ausging, dass Herr King keinen Anspruch auf bezahlten Jahresurlaub habe, selbst dann unerheblich, wenn er erwiesen wäre. Es obliegt nämlich dem AG, sich umfassend über seine Verpflichtungen in diesem Bereich zu informieren.

62 Wie sich aus Rn 34 des vorliegenden Urteils ergibt, darf nicht bereits die Entstehung des Anspruchs auf bezahlten Jahresurlaub von irgendeiner Voraussetzung abhängig gemacht werden, da dieser Anspruch dem AN unmittelbar durch die RL 2003/88 verliehen wird. Somit ist es, was das Ausgangsverfahren betrifft, irrelevant, ob Herr King im Laufe der Jahre bezahlten Jahresurlaub beantragt hat oder nicht (vgl in diesem Sinne Urteil vom 12.6.2014, Bollacke, C-118/13, EU:C:2014:1755, Rn 27 und 28).

63 Aus dem Vorstehenden ergibt sich, dass anders als im Fall des Ansammelns von Ansprüchen auf bezahlten Jahresurlaub durch einen AN, der aus Krankheitsgründen daran gehindert war, diesen Urlaub zu nehmen, der AG, der einen AN nicht in die Lage versetzt, seinen Anspruch auf bezahlten Jahresurlaub auszuüben, die sich hieraus ergebenden Folgen zu tragen hat.

64 Drittens darf unter solchen Umständen, wenn es keine nationale gesetzliche oder vertragliche Vorschrift gibt, die eine Begrenzung der Übertragung von Urlaubsansprüchen im Einklang mit den Anforderungen des Unionsrechts vorsieht (vgl in diesem Sinne Urteile vom 22.11.2011, KHS, C-214/10, EU:C:2011:761 und vom 3.5.2012, Neidel, C-337/10, EU:C:2012:263), die in der RL 2003/88 vorgesehene Unionsregelung über die Arbeitszeitgestaltung nicht restriktiv ausgelegt werden. Ließe man unter diesen Umständen ein Erlöschen der vom AN erworbenen Ansprüche auf bezahlten Jahresurlaub zu, würde man damit nämlich im Ergebnis ein Verhalten bestätigen, das zu einer unrechtmäßigen Bereicherung des AG führt und dem eigentlichen Zweck der RL, die Gesundheit des AN zu schützen, zuwiderläuft.

65 Nach alledem ist auf die Fragen zwei bis fünf zu antworten, dass Art 7 der RL 2003/88 dahin auszulegen ist, dass er einzelstaatlichen Rechtsvorschriften oder Gepflogenheiten entgegensteht, nach denen es einem AN verwehrt ist, Ansprüche auf bezahlten Jahresurlaub, die in mehreren aufeinanderfolgenden Bezugszeiträumen wegen der Weigerung des AG, diese Urlaubszeiten zu vergüten, nicht ausgeübt worden sind, bis zum Zeitpunkt der Beendigung seines Arbeitsverhältnisses zu übertragen und gegebenenfalls anzusammeln [...].355