SteinerEin Mann und sein Plan – Friedrich Hillegeist in der österreichischen Sozialversicherung

Verlag des ÖGB, Wien 2013, 252 Seiten, € 36,–

JOSEFCERNY (WIEN)

Im Auftrag des Hauptverbandes der österreichischen Sozialversicherungsträger hat Günther Steiner in den letzten Jahren Studien zur Geschichte des Hauptverbandes (2009), zu Johann Böhm in der österreichischen Sozialversicherung (2011; vgl dazu die Besprechung von Pellar, DRdA 2011, 598) und zum Sozialpolitiker Karl Maisel (2012; vgl dazu meine Besprechung, DRdA 2012, 441) verfasst.

Mit dem vorliegenden Buch über Friedrich Hillegeist wird diese Serie fortgesetzt. Es ist im Rahmen der seit 2010 bestehenden Kooperation zwischen dem Hauptverband und dem Institut für Konfliktforschung, dessen Mitarbeiter Steiner ist, unter der wissenschaftlichen Leitung von Anton Pelinka entstanden. Jede dieser Studien hat ein spezielles Kapitel der Geschichte der österreichischen SV zum Gegenstand, in der Zusammenschau bieten sie aber nicht nur eindrucksvolle Portraits von politischen Schlüsselfiguren der ersten Jahrzehnte der Zweiten Republik, sondern auch eine sehr detaillierte, in dieser Breite und Gründlichkeit vorher nicht vorhandene Dokumentation der Entwicklung des Sozialversicherungsrechts und der Organisation der SV in Österreich. Da es sich bei Böhm, Maisel und Hillegeist um führende Persönlichkeiten der Gewerkschaftsbewegung handelt, ist die Darstellung ihrer Aktivitäten im Rahmen der SV zugleich ein wichtiges Stück der Gewerkschaftsgeschichte dieser Zeit.

Das jüngste Buch von Steiner gliedert sich in drei Teile: Nach einer Einleitung, die die Zielsetzung des Buches darlegt und den Stand der einschlägigen Forschung dokumentiert, werden zunächst Herkunft und Werden Friedrich Hillegeists, seine Rolle beim Aufbau der Angestelltenversicherungsanstalt in den Jahren 1945 bis 1948 und bei der Vorarbeit zur großen Reform des Sozialversicherungsrechts durch das ASVG beschrieben. Im Mittelpunkt steht dabei der nach ihm benannte „Hillegeist-Plan“.

Vorangestellt ist diesem ersten Teil ein kurzer Abschnitt mit dem Titel „Wohlfahrtsstaat und Sozialpolitik“, der freilich in dem gegebenen Rahmen nicht das halten kann, was der Titel verspricht. Eine so komplexe Materie wie die Sozialpolitik lässt sich eben nicht durch vereinzelte Lehrbuchdefinitionen oder Zitate aus Schulungsbehelfen darstellen. Das gleiche trifft auf die Theorien der Wohlfahrtsforschung zu.

Nach einer Unterbrechung des Textes durch einen sehr interessanten und illustrativen Bildteil widmet sich Steiner dem Wirken von Hillegeist als Hauptverbandspräsident in den Jahren 1959 bis 1968. Die Ausweitung der SV auf die Selbständigen, die Sanierung der Krankenkassen und die Pensionsanpassung sind zentrale Themen dieser Zeit, die – wenn auch unter geänderten Rahmenbedingungen – bis heute nichts an Aktualität verloren haben.

Schlussbetrachtungen zur Charakteristik des Sozialversicherungspolitikers Friedrich Hillegeist und ein Appendix mit Stationen aus seinem Leben und Wirken runden das Buch ab.

Obwohl Steiner schon in der Einleitung betont, dass dieses Buch keine Biographie ist, sondern die Frage nach der Rolle und Bedeutung Friedrich Hillegeists für die österreichische SV stellt, gelingt es ihm, ein differenziertes und facettenreiches, insgesamt aber doch sehr klares Bild der Persönlichkeit Hillegeists und seiner Charaktereigenschaften zu zeichnen: Einerseits „hartnäckig, realistisch – und innovativ“, wie Anton Pelinka im Vorwort schreibt, ausgestattet mit besonderer Intelligenz, hoher sozialer Verantwortung, innerer Aufrichtigkeit, Wahrheitsliebe, Dynamik, Konsequenz und Standfestigkeit, hart in der Sache, aber auch tolerant gegenüber Andersdenkenden; andererseits ein „Sturschädel“ (so bezeichnete ihn sein Sohn in einem Interview!), dominant, unbequem, eigenwillig, ein Mann einsamer Entscheidungen (so sein Nachfolger als Obmann der Pensionsversicherungsanstalt der Angestellten, Alfred Dallinger), „oberlehrerhaft“ (Steiner).

Die Zwiespältigkeit seiner Charaktereigenschaften zeigte sich auch im politischen Handeln: Einerseits Weichensteller, Brückenbauer, Integrationsfigur, um Sachlichkeit bemühter Konsenspolitiker; andererseits engagierter, ja fanatischer Vertreter der speziellen Interessen und des Sonderstatus der Angestellten, was ihn zum „Säulenheiligen“ dieser AN-Gruppe werden ließ.

Insgesamt ergibt die Darstellung Steiners, unterlegt durch sorgfältig recherchierte Daten und Fakten, das Bild einer „überzeugenden und von sich überzeugten Persönlichkeit“ (S 215), eines „Schwierigen“, der sich zu Höherem berufen288 fühlte und zeitlebens darunter litt, nicht den Rang erreicht zu haben, der ihm zugekommen wäre, enttäuscht, oftmals missverstanden oder allein gelassen worden zu sein.

Charakteristisch für die Persönlichkeit Hillegeists ist auch, dass er nicht nur eine Autobiographie schrieb, sondern anlässlich seines 60. Geburtstages sogar eine „Geburtstagsrede auf sich selbst“ hielt, in der er bekannte, er habe „bis heute immer noch nicht gelernt, mir jene ‚schlichte‘ Bescheidenheit anzueignen, die ich bei vielen ‚Geburtsvorgängern‘ beobachten konnte...“ (S 133). Wenn Steiner meint, in der Biographie Hillegeists ließen sich Parallelen zu den Lebensläufen von Johann Böhm oder Karl Maisel erkennen, so mag das auf seine Herkunft und Sozialisation durchaus zutreffen, nicht aber auf den Mangel an Bescheidenheit. Im Gegensatz zu Hillegeist zeichnete persönliche Bescheidenheit die meisten führenden Gewerkschafter ganz besonders aus.

Besonders verdienstvoll ist die detailreiche und präzise Aufarbeitung der Vorgeschichte des ASVG durch Steiner. Zusammen mit der vorher veröffentlichten Studie über den Sozialminister Karl Maisel ergibt die Darstellung der Entwicklung vom Sozialversicherungs-ÜberleitungsG 1947 bis zur Verabschiedung des ASVG am 9.9.1955 ein vollständiges Bild der Bemühungen um die Schaffung eines österreichischen Sozialversicherungsrechts im ersten Jahrzehnt der Zweiten Republik. Dabei zeigt sich, dass die oft verwendete Etikettierung Karl Maisels als „Vater des ASVG“ jedenfalls zu kurz greift. Dem Gesetzesbeschluss ging ein hartes politisches Ringen – auch innerhalb der Gewerkschaftsbewegung – um die Grundsätze der Rentenreform voraus, in dem neben dem Sozialminister und Obmann der Gewerkschaft der Metall- und Bergarbeiter Karl Maisel auch der Obmann der Angestelltenversicherungsanstalt, Angestelltengewerkschafter und Abgeordnete zum Nationalrat Friedrich Hillegeist eine entscheidende Rolle spielte. Personifiziert durch diese beiden standen sich in der Diskussion um eine Reform der SV zwei grundsätzlich unterschiedliche Konzeptionen gegenüber: Während Maisel ein Anhänger des Modells einer einheitlichen Volksversicherung nach dem Vorbild des in Großbritannien verwirklichten „Beveridge-Plans“ unter Beseitigung der Unterschiede zwischen Angestellten und Arbeitern war, trat Hillegeist vehement gegen eine „Nivellierung“ des Leistungsrechts in der PV ein. Der von ihm ausgearbeitete Rentenreformplan, später als „Hillegeist-Plan“ in die Geschichte der österreichischen SV eingegangen, war ursprünglich nur für die Angestellten gedacht. Seine Grundforderung lautete dem entsprechend: Ausreichende Erhöhung der Renten und Beseitigung der Unterversicherung in der PV der Angestellten. Darüber hinaus vertrat Hillegeist in seinem Reformkonzept Grundsätze, die in der Folge die weitere Entwicklung des Sozialversicherungsrechts, insb in der PV, entscheidend prägen sollten: das Solidaritätsprinzip, das Versorgungsprinzip, das Lebensstandardprinzip und die Finanzierung nach dem Umlageverfahren. Wesentlicher Bestandteil seines Konzepts waren Ruhensbestimmungen, weil er es nicht für sozial vertretbar hielt, „jemandem zu seinem Arbeitseinkommen die Rente zusätzlich als Nebeneinkommen zu geben“ (S 90).

Im Detail kann man durchaus darüber streiten, ob das letztlich beschlossene ASVG eher die Handschrift der Legisten des Sozialministeriums oder der Experten des Hauptverbandes oder aber jene des Sozialversicherungspolitikers Hillegeist trägt. Unbestreitbar ist aber, dass dessen Lebenswerk, der „Hillegeist-Plan“, den Grundstein der Pensionsbestimmungen des ASVG gebildet hat. Deshalb kann man Hillegeist wohl zu Recht als Wegbereiter und einen der Architekten des ASVG bezeichnen. Unbestreitbar ist aber auch, dass es der politischen Durchsetzungskraft eines Karl Maisel bedurft hat, um das große Werk zu realisieren.

Interessant ist auch, was Steiner über die Reaktionen auf die geplanten Regelungen in der KV im Rahmen des ASVG berichtet: Wenige Tage vor der Beschlussfassung im Nationalrat protestierte die Ärzteschaft gegen das Gesetz mit einer Demonstration und einem „Ärztestreik“. Sie fürchtete um den freien Berufsstand des Arztes und wollte eine Einkommensgrenze für die Inanspruchnahme der ärztlichen Hilfe als Sachleistung; außerdem wehrten sich die Ärzte gegen die Konkurrenz durch Kassenambulatorien. Wer denkt bei einem solchen Bericht nicht an spätere ähnliche Ereignisse und an die aktuelle Diskussion um eine Gesundheitsreform? Bestimmte Interessenlagen ändern sich offenbar auch nach 60 Jahren nicht, wodurch der Eindruck entsteht, dass sich die Geschichte wiederholt.

Ein wichtiger Lebensabschnitt, der in Steiners Studie nur relativ kurz behandelt wird, ist die Zwischenkriegszeit. Als überzeugter Antifaschist lehnte Hillegeist jede offizielle Mitarbeit in der Einheitsgewerkschaft des Ständestaates, die er nicht als echte Interessenvertretung der Angestellten angesehen hat, kategorisch ab, sprach sich aber gleichzeitig dafür aus, legale und halblegale Möglichkeiten zu nützen, um sich im Interesse der Erhaltung der wirtschaftlichen und sozialen Errungenschaften Einfluss in der Einheitsgewerkschaft zu sichern (S 37). Als Gründer der „Freien Angestelltengewerkschaft Österreichs“ setzte er seine gewerkschaftliche Tätigkeit in der Illegalität fort und wurde – auch von den anderen Gewerkschaften – zum Sprecher jenes „Arbeiterkomitees“ gewählt, das Verhandlungen mit Bundeskanzler Kurt Schuschnigg über eine Zusammenarbeit mit der Regierung führen sollte. Hillegeist war fest davon überzeugt, dass man bis zum letzten Augenblick alles unternehmen musste, um Hitler zu verhindern, und glaubte daran, dass das durch die Vereinigung der Österreicher aller politischen Lager möglich wäre (S 38). Am 3.3.1938 kam es zur Aussprache mit Schuschnigg, der sich zwar verhandlungsbereit erklärte, aber den Führer der Christlich-sozialen Johann Staud mit der Verhandlungsführung beauftragte. Steiner beendet dieses Kapitel mit dem Hinweis, die Verhandlungen seien vom Gang der Ereignisse und vom Einmarsch der Nazis „überholt“ worden. An dieser Stelle von Steiners Buch hätte ich mir doch etwas mehr Tiefgang gewünscht. Immerhin meint Bruno Kreisky in seinen Memoiren (Zwischen den Zeiten, S 282 f), Staud habe diese Gespräche sabotiert, weil er das Monopol, das ihm die Diktatur eingeräumt hatte, nicht preisgeben wollte und sich „zu viel Zeit gelassen“ habe. Fest steht jedenfalls, dass Friedrich Hillegeist seinen Kampf gegen den Nationalsozialismus – wie viele andere Gewerkschafter – mit der Verhaftung und Deportation in das KZ Buchenwald bezahlen musste.

Das beherrschende Thema, das Steiners Studie wie ein roter Faden durchzieht, ist das Verhältnis oder genauer gesagt: der Konflikt zwischen Arbeitern und Angestellten innerhalb der Gewerkschaftsbewegung. Schon im Vorwort schreibt Anton Pelinka: „Hillegeist sah seine Aufgabe in der SPÖ und im 1945 neu gegründeten, überparteilichen Österreichischen Gewerkschaftsbund vor allem darin, die speziellen Interessen der Angestellten zu vertreten. Deshalb verteidigte er auch – gerade bei der Formulierung eines umfassenden Sozialversicherungsrechts – den Sonderstatus der Angestellten“.

Obwohl in einem Artikel der Gewerkschaftszeitung „Der österreichische Arbeiter und Angestellte“ schon 1946 zu lesen war, dass „die Scheidung der Arbeiter ... in ‚Angestellte‘ und ‚Arbeiter‘ ... das alberne Überbleibsel einer überholten Vergangenheit289“ sei, erklärte Hillegeist noch 1962 dezidiert: „Wir möchten in unserem eigenen Bestreben unsere Rechte zu verbessern, nicht gehemmt werden, wir möchten vor allem nicht, daß man den Begriff Arbeitnehmer nun wahllos auf alle ausdehnt, sondern wir haben uns den Namen Angestellte verdient und wollen ihn weiter behalten“ (Zitat bei Steiner, S 71).

Gleichzeitig betonte Hillegeist immer wieder die Notwendigkeit der Solidarität mit den Arbeitern und kündigte an, die Angestellten würden „auch alle Bestrebungen der Arbeiter nach Angleichung der arbeits- und sozialrechtlichen Gesetze und Einrichtungen an die Angestellten tatkräftig zu unterstützen bemüht sein. Das Ziel unserer Sozialgesetzgebung muß die Schaffung eines gemeinsamen Sozialrechtes aller Arbeitnehmer sein. Dieses neue Recht soll in einem alle Sozialgesetze umfassenden österreichischen Gesetzbuch vereinigt werden.“

Das wiederholte Bekenntnis Hillegeists zum gemeinsamen sozialen Fortschritt von Arbeitern und Angestellten war aber fast immer mit dem Zusatz versehen, die Besserstellung der Angestellten sei „ein Argument für die Arbeiter, auch einen Schritt vorwärts zu kommen“ (S 93). Dadurch entsteht der Eindruck, es könnte sich eher um ein verbales Bekenntnis mit dem Ziel gehandelt haben, Unterstützung bei der Aufrechterhaltung der Vorteile der Angestellten zu erhalten.

Eine wirklich überzeugende Begründung für die Notwendigkeit der Unterscheidung zwischen Arbeitern und Angestellten sucht man auch in den zahlreichen Zitaten Steiners vergebens. Hillegeist nennt dafür „historische Gründe“ und beruft sich in diesem Zusammenhang auf das Angestellten- PensionsversicherungsG 1906, zu dem Ernst Hanisch in seiner Österreichischen Gesellschaftsgeschichte im 20. Jahrhundert meint, es „unterstrich diese Differenz zu den ‚Proleten‘. [...] Diese Privilegierung kann wohl mit Recht als mittelstandspolitischer Integrationsversuch interpretiert werden...“ (Zitat bei Steiner, S 41).

Am ehesten überzeugt noch das auch von Pelinka im Vorwort verwendete Argument, die Loyalität der Angestellten sei „nur schwer an einen umfassenden Dachverband zu binden, wenn ihnen innergewerkschaftlich keine autonome Interessenvertretung zugestanden wird.“ (S 7). Hillegeist selbst war auch immer wieder für einen überparteilichen, einheitlichen Gewerkschaftsbund unter Einschluss einer autonomen Vertretung der Angestellten eingetreten. Das habe es nach Meinung Pelinkas ermöglicht, „dass der ÖGB sich als stabile, zwischen den Großparteien außer Streit gestellte Säule der Zweiten Republik und der für diese so charakteristischen Sozialpartnerschaft zu etablieren vermochte“ (S 8).

Zu Recht schreibt Steiner in seinen Schlussbetrachtungen: „Die Erforschung der Bedeutung Hillegeists für die Sozialversicherung birgt ... ein interessantes und ... vielleicht noch nichtgenügend beleuchtetes Stück Gewerkschaftsgeschichte.

Wer die Zitate zum Thema Arbeiter – Angestellte bei Steiner sorgfältig gelesen hat, wird eher verstehen, warum die Etablierung eines einheitlichen AN-Begriffs im Rahmen einer umfassenden Arbeitsrechtskodifikation trotz wiederholter Beschlüsse von Gewerkschaftskongressen und Absichtserklärungen in Regierungsprogrammen bis heute nicht zustande gekommen ist.

Insgesamt ein interessantes und trotz der Anhäufung von Daten und Fakten auch gut lesbares Buch, das die Serie der von Steiner in den letzten Jahren verfassten sozialgeschichtlichen Studien gekonnt fortsetzt und abrundet.

Wer Zeit sparen und sich dennoch über den wichtigsten Inhalt des Buches informieren will, kann sich mit der Lektüre der Zusammenfassung in den Schlussbetrachtungen begnügen. Zu empfehlen ist das allerdings nicht – das Buch verdient es, vollständig und aufmerksam gelesen zu werden.