48

Mitwirkungspflicht im Pflegegeldrecht

MARTINGREIFENEDER (WELS)
  1. Der allgemeine Grundsatz, wonach ein Versicherter die Interessen des Sozialversicherungsträgers und damit auch die der anderen Versicherten in zumutbarer Weise zu wahren hat, will er seine Ansprüche nicht verlieren, indem er eine notwendige und zumutbare Krankenbehandlung durchführt, die zu einer Heilung und zu einer Wiederherstellung der Arbeitsfähigkeit führen würde, ist auch für den Anspruch auf Zuerkennung des Pflegegeldes nutzbar zu machen.

  2. Eine Schadensminderungspflicht in Form der Duldung einer bestimmten Behandlung ist von einem entsprechenden ausdrücklichen Verlangen des Versicherungsträgers abhängig. Dadurch soll für den Versicherten klargestellt werden, welche konkrete Heilbehandlung verlangt wird.

  3. Das Verlangen des Versicherungsträgers hat im Prozess ausdrücklich zu erfolgen. Für den Versicherten muss sich aus den Gesamtumständen des Einzelfalls eindeutig ergeben, dass die Missachtung dieses Verlangens als Sanktion den Leistungsverlust nach sich zieht.

  4. Ob das Verlangen vom Vertreter des Versicherungsträgers selbst oder über Ersuchen des Versicherungsträgers im Wege des Vorsitzenden des sozialgerichtlichen Senats erhoben wird, ist nicht maßgeblich. Die Aufforderung des Versicherungsträgers kann wirksam auch gegenüber einem mit Prozessvollmacht versehenen Rechtsanwalt erfolgen.

  5. Eine nochmalige Aufforderung bzw Belehrung im Durchführungsbescheid der SV ist hingegen nicht zusätzlich erforderlich.

Im Verfahren 25 Cgs 142/08t des Arbeits- und Sozialgerichts Wien begehrte die Kl den Zuspruch des Pflegegelds der Stufe 1 ab 1.5.2008. Aus dem Protokoll der in diesem Verfahren abgehaltenen mündlichen Streitverhandlung vom 10.3.2009 ergibt sich, dass die Kl Mobilitätshilfe im weiteren Sinn nur deshalb benötigte, weil sie hochgradiges Übergewicht hatte (100 kg bei 161 cm Körpergröße, also etwa 40 kg Übergewicht). Dieser Zustand wurde im Rahmen der Gutachtenserörterung vom Sachverständigen unter Voraussetzung einer Gewichtsabnahme als besserbar erachtet. Der Sachverständige führte aus, dass eine sinnvolle medizinisch indizierte Gewichtsabnahme eine Dauer von zwei Jahren in Anspruch nehmen würde, bis ein kalkülsrelevanter Zustand eingetreten sei.

Weiters lautet das Protokoll wie folgt:

„... Es werden Vergleichsgespräche geführt. Der Herr KV wird darauf hingewiesen, dass die Kl über eine Notwendigkeit der Mitwirkung in Richtung Gewichtsreduktion zu belehren ist, widrigenfalls eine allenfalls gewährte befristete Pflegegeldleistung nicht weiter gewährt werden kann. Der Herr KV nimmt dies zur Kenntnis ...“.

Anschließend ist der Vergleich – befristete Gewährung des Pflegelds der Stufe 1 von 1.5.2008 bis 28.2.2011 – protokolliert.

Im Durchführungsbescheid vom 7.5.2009 heißt es, dass „mit dem vor Gericht abgeschlossenen Vergleich der Anspruch auf Pflegegeld vom 1.5.2008 bis 28.2.2011 in der Höhe der Stufe 1 anerkannt wurde“. Weiters enthält der Bescheid die Höhe des monatlichen Pflegegeldes (ab 1.5.2008 148,30 €; ab 1.1.2009 154,20 €) sowie den Hinweis, dass der Gesundheitszustand nach medizinischer Erfahrung eine Besserung erwarten lässt, die den Wegfall (die Herabsetzung) des Pflegegeldes wahrscheinlich macht.

In der Folge bezog die Kl das von 1.5.2008 bis 28.2.2011 befristete Pflegegeld der Stufe 1.

Mit Bescheid vom 28.3.2011 lehnte die Bekl den Antrag der Kl auf Weitergewährung des befristet zuerkannten Pflegegeldes ab.

Gegen den abweislichen Bescheid über die Weitergewährung des Pflegegeldes der Stufe 1 über den 28.2.2011 hinaus richtet sich die vorliegende Klage.

Bei der Untersuchung durch den gerichtsärztlichen Sachverständigen wog die Kl nunmehr 99 kg.

Die Bekl erhob daraufhin den Einwand der Verletzung der Mitwirkungspflicht mit der Begründung, die Kl habe trotz dezidierter Belehrung im Vorverfahren keine Gewichtsreduktion durchgeführt. Bei ordnungsgemäßer Mitwirkung wäre ein geringerer Pflegebedarf gegeben. Der Klagevertreter entgegnete, [...] die Kl habe die üblichen Maßnahmen ergriffen, die zur Gewichtsreduktion führen.

Das Erstgericht wies das Klagebegehren wegen Verletzung der Mitwirkungspflicht ab. Es traf die Feststellungen, dass eine Gewichtsreduktion bereits zum Zeitpunkt des Vergleichsabschlusses medizinisch indiziert war, es der Kl möglich gewesen wäre, unter Inanspruchnahme ärztlicher Hilfe das Gewicht um etwa ein halbes Kilo monatlich zu reduzieren, sodass sie mit Ablauf der Befristung Ende Februar 2011 das Normalgewicht von 64 kg erreicht hätte, und dies den Entfall des Hilfs- und Pflegebedarfs bei der gründlichen Körperpflege, dem An- und Ausziehen der Stützstümpfe und der Mobilität iwS zur Folge gehabt hätte.

In der Berufung bekämpfte die Kl diese Feststellungen und brachte im Wesentlichen vor, die auferlegte Mitwirkungspflicht sei zu unbestimmt erfolgt bzw zu ungenau formuliert; es seien ihr keine konkreten Maßnahmen aufgetragen worden, wie eine Gewichtsreduktion um 40 kg bewältigt werden könne. Sie habe ohnehin alles ihr Mögliche getan, zu einer weiteren Gewichtsreduktion sei sie aber infolge ihres Gesundheitszustands nicht in der Lage gewesen. Es würden Feststellungen zur Frage der Schuldhaftigkeit der Verletzung der Mitwirkungspflicht fehlen.

Das Berufungsgericht gab der Berufung Folge und verpflichtete die Bekl zur Gewährung des Pflegegelds der Stufe 1 vom 1.3.2011 befristet bis 28.2.2013. Es [...] vertrat die Rechtsansicht, die Bekl habe seinerzeit schon deshalb nicht mit der erforderlichen Eindeutigkeit auf die in der befristeten Gewährung enthaltene Bedingung hingewiesen, dass die Kl bei sonstigem Anspruchsverlust geeignete Maßnahmen zur medizinisch indizierten Gewichtsreduktion durchführen müsse, weil der Durch499führungsbescheid nach Vergleichsabschluss keinen Hinweis auf die Mitwirkungspflicht enthalten habe. Der Versicherte sei nicht genötigt, das Prozessverhalten des Versicherungsträgers zu interpretieren.

In ihrer außerordentlichen Revision macht die Bekl [...] geltend, [...] das Berufungsgericht hätte sich nicht mit der formalen Begründung begnügen dürfen, der Bescheid enthalte keine Anordnung oder kein Verlangen des Versicherungsträgers, sondern hätte sich mit der Frage des Verschuldens an der Nichtmitwirkung auseinanderzusetzen gehabt. [...]

Rechtliche Beurteilung

Die Revision ist zulässig, weil keine Rsp zu der Frage besteht, ob auch der Durchführungsbescheid nach einem Vergleichsabschluss eine neuerliche Belehrung über die Mitwirkungspflicht enthalten muss, um von einem „eindeutigen Verlangen“ des Versicherungsträgers ausgehen zu können.

Die Revision ist auch iSd eventualiter gestellten Aufhebungsantrags berechtigt.

1.1. Der allgemeine Grundsatz, dass ein Versicherter die Interessen des Sozialversicherungsträgers und damit auch die der anderen Versicherten in zumutbarer Weise zu wahren hat, wenn er seine Ansprüche nicht verlieren will, indem er eine notwendige und zumutbare Krankenbehandlung durchführt, die zu einer Heilung und zu einer Wiederherstellung der Arbeitsfähigkeit führen würde, ist auch für den Anspruch auf Zuerkennung des Pflegegeldes nutzbar zu machen (OGH10 ObS 27/96, SSV-NF 10/26).

1.2. Der Versicherte hat es somit nicht in der Hand, durch Verweigerung einer zumutbaren Therapie oder einer Untersuchung seines Gesundheitszustands zur Feststellung des Therapieerfolgs den Weiterbezug einer Pflegegeldleistung zu erreichen.

2. Eine Schadensminderungspflicht des Versicherten in Form der Duldung einer bestimmten Behandlung ist von einem entsprechenden Verlangen des Versicherungsträgers abhängig. Dadurch soll für den Versicherten klargestellt werden, welche konkrete Heilbehandlung vom Versicherungsträger verlangt wird. Das Verlangen des Versicherungsträgers hat im Prozess ausdrücklich zu erfolgen und darf sich nicht mit dem Hinweis begnügen, die Mitwirkungspflicht des Versicherten ergebe sich ohnehin aus dem Gutachten des Sachverständigen. Der Versicherte soll nicht genötigt werden, das Prozessverhalten des Versicherungsträgers zu interpretieren und daraus Schlüsse im Hinblick auf eine mögliche Mitwirkungspflicht zu ziehen. Die Nichtgewährung der Leistungen wegen Verletzung der Mitwirkungspflicht setzt vielmehr voraus, dass sich für den Versicherten aus den Gesamtumständen des Einzelfalls eindeutig ergeben muss, dass die Missachtung dieses Verlangens des Versicherungsträgers als Sanktion den Leistungsverlust nach sich zieht. Nach der neueren Rsp (OGH10 ObS 93/10i, SSV-NF 24/48) macht es aber keinen Unterschied, ob das Verlangen vom Sozialversicherungsträger im Rahmen eines Verwaltungsverfahrens oder eines gerichtlichen Verfahrens unmittelbar oder über Ersuchen des Versicherungsträgers im Wege über den Vorsitzenden des Senats gegenüber dem Versicherten erhoben wird.

3.1. Die Nichtgewährung der begehrten Pflegegeldleistung würde somit voraussetzen, dass die Kl trotz ausdrücklichen Hinweises auf die Folgen ihres (Fehl-)Verhaltens, nämlich den Verlust des geltend gemachten Anspruchs auf Pflegegeld ab 1.3.2011, eine eindeutige Aufforderung des zuständigen Versicherungsträgers, sich unter Inanspruchnahme ärztlicher Hilfe einer medizinisch indizierten und zumutbaren Gewichtsreduktion zu unterziehen, nicht befolgt hat. Fehlte hingegen ein solches eindeutiges „Verlangen“, wäre davon auszugehen, dass keine Mitwirkungspflicht der Kl entstanden wäre (OGH10 ObS 136/07h, SSV-NF 22/12).

3.2. Hat sich aufgrund des Sachverständigenbeweises im Verfahren die Möglichkeit zur Verringerung des Pflegebedarfs durch eine Gewichtsreduktion herausgestellt, so war für das Entstehen der Mitwirkungspflicht der Kl ein entsprechendes Verlangen des Versicherungsträgers notwendig (OGH10 ObS 188/04a, SSV-NF 20/13; OGH10 ObS 93/10i, SSV-NF 24/48). Dass der Hinweis auf die Mitwirkungspflicht in der Streitverhandlung vom 10.3.2009 über Ersuchen des Versicherungsträgers erfolgte, geht zwar nicht eindeutig aus dem Verhandlungsprotokoll hervor, wird aber von der Kl weder im erstinstanzlichen Verfahren noch in ihrer Berufung in Frage gestellt. Ob das Verlangen vom Vertreter des Versicherungsträgers selbst oder über Ersuchen des Versicherungsträgers im Wege des Vorsitzenden des sozialgerichtlichen Senats erhoben wurde, ist nicht maßgeblich.

3.3. Die Aufforderung des Versicherungsträgers konnte wirksam auch gegenüber dem von der Kl mit Prozessvollmacht versehenen Rechtsanwalt erfolgen (vgl OGH10 ObS 221/92, SSV-NF 6/128). Dieser war für die Weitergabe der Aufforderung zur Befolgung der Mitwirkungspflicht und zur Weitergabe der Belehrung über allfällige Konsequenzen bei Nichtbefolgung an die Kl verantwortlich (vgl Stumvoll in

Fasching/Konecny
2, § 93 ZPO Rz 3).

3.4. War die Kl auf Verlangen des Versicherungsträgers auf die Mitwirkungspflicht, sich unter Inanspruchnahme ärztlicher Hilfe einer medizinisch indizierten und zumutbaren Gewichtsreduktion zu unterziehen, hingewiesen und ihr Belehrung über die Folgen der Nichtbeachtung der Mitwirkungspflicht erteilt worden, musste sich für sie eindeutig ergeben, dass die Missachtung dieses Verlangens als Sanktion den Verlust des Anspruchs auf Pflegegeld ab 1.3.2011 nach sich ziehen kann. Eine nochmalige Aufforderung bzw Belehrung im Durchführungsbescheid der Bekl war daher nicht notwendig, weil sich diese ja ausdrücklich auf den gerichtlichen, im selben Protokoll enthaltenen Vergleich bezog.

3.5. Ausgehend von den Feststellungen des Erstgerichts ist die Mitwirkungspflicht der Kl in Form der Verpflichtung zur medizinisch indizierten Gewichtsreduktion mit dem Ziel der Erreichung des Normalgewichts ausreichend konkretisiert und bestimmt. Die konkrete Auswahl des Kassenarztes zur ärztlichen Begleitung bzw Aufsicht der Gewichtsreduktion oblag der Kl; ebenso die Wahl der in Frage kommenden gewichtsreduzierenden Maßnahmen.

4. Da die Verletzung der Mitwirkungspflicht schuldhaft erfolgen muss und das Berufungsgericht ausgehend von seiner vom OGH nicht geteilten Rechtsansicht die Behandlung der Tatsachenrüge unterlassen hat, ist dem OGH eine abschließende Entscheidung nicht möglich. Das Berufungsgericht wird daher nach Behandlung der Tatsachenrüge eine neuerliche Ent500scheidung unter Berücksichtigung der dargelegten Ausführungen zu treffen haben. [...]

Anmerkung

Der OGH hat sich in dieser E vorwiegend mit der Frage auseinandergesetzt, welche formellen Voraussetzungen im Sozialversicherungsrecht zur Begründung einer Mitwirkungspflicht erfüllt werden müssen, um im Falle eines schuldhaften Zuwiderhandelns zur Sanktion des Anspruchsverlustes führen zu können. Er traf dabei aber auch sehr verallgemeinernde Aussagen zur Frage der Mitwirkungspflicht zur Vermeidung von Pflegebedarf bzw zur Heranziehung von Grundsätzen, die die Rsp insb zum Versicherungsfall der geminderten Arbeitsfähigkeit entwickelt hat. Insb dieser Aspekt ist näher zu hinterfragen.

1.
Begründung der Mitwirkungspflicht – Verlangen des Sozialversicherungsträgers

Der OGH wiederholt zunächst seine stRsp zur Schadensminderungspflicht des Versicherten in Form der Duldung einer bestimmten Behandlung.

Demnach

  • ist diese Verpflichtung von einem entsprechenden Verlangen des Versicherungsträgers abhängig;

  • hat dieses Verlangen von Seiten des Versicherungsträgers ausdrücklich derart zu erfolgen, dass nach den Gesamtumständen des Falles eindeutig ist, dass die Missachtung dieses Verlangens als Sanktion den Leistungsverlust nach sich zieht;

  • kann dieses Verlangen im Rahmen eines Verwaltungsverfahrens oder eines gerichtlichen Verfahrens unmittelbar oder über Ersuchen des Versicherungsträgers im Wege über den Vorsitzenden des Senats gegenüber dem Versicherten oder auch gegenüber seinem Parteienvertreter erhoben werden, der zur Weitergabe der Belehrung über allfällige Konsequenzen bei Nichtbefolgung an die Kl verantwortlich ist.

Erstmals klargestellt wird seitens des OGH, dass dann, wenn ein solches qualifiziertes Verlangen in der Gerichtsverhandlung gestellt worden ist, es nicht zusätzlich erforderlich ist, dass dieses Verlangen im Durchführungsbescheid des Sozialversicherungsträgers nochmals enthalten ist.

2.
Mitwirkungspflicht zur Vermeidung von Pflegebedarf

Zur Frage der Mitwirkungspflicht beruft sich der OGH auf seine stRsp, wonach im Bereich des Sozialversicherungsrechts ein allgemeiner Grundsatz bestehe, dass ein Versicherter die Interessen des Sozialversicherungsträgers und damit auch die der anderen Versicherten in zumutbarer Weise zu wahren habe, wolle er seine Ansprüche nicht verlieren, indem er eine notwendige und zumutbare Krankenbehandlung durchführt, die zu einer Heilung und zu einer Wiederherstellung der Arbeitsfähigkeit führen würde (RIS-Justiz RS0084353). Er verweist kurz auf die zum Pflegegeld ergangene OGH-Leitentscheidung vom 12.3.1996, 10 ObS 27/96, wonach dieser Grundsatz auch für den Anspruch auf Zuerkennung des Pflegegeldes „nutzbar zu machen“ sei. Eine nähere Auseinandersetzung mit dieser Frage erfolgte aber weder in der gegenständlichen E noch in der zitierten Leitentscheidung. In letzterer wurde lediglich ausgeführt, dass es keinen Unterschied mache, dass es sich beim Pflegegeld – zum Unterschied zu Leistungen aus der SV – um eine Leistung des Bundes handle, die nicht durch Beiträge, sondern ausschließlich aus Budgetmitteln bedeckt werde (vgl Gruber/Pallinger, Kommentar zum BPGG [1994] Art I Rz 2); denn auch die Kosten des Pflegegeldes würden von der Allgemeinheit der Steuerzahler und die dadurch begründete Risikogemeinschaft getragen. Dem ist zuzustimmen. Eine darüber hinausgehende Auseinandersetzung mit allfälligen Besonderheiten des Pflegegeldrechts im Vergleich zu Leistungen aus der SV, insb zu jenen aus dem Versicherungsfall der geminderten Arbeitsfähigkeit, auf die die „nutzbar gemachte“ Rsp zurückzuführen ist, erfolgte seitens des OGH bisher nicht.

Unbestritten handelt es sich auch beim Pflegegeld um eine der Materie des Sozialrechts zuzuordnende Leistung, ohne dass aber eine eindeutige Zuordnung zu den Zweigen der SV, der Versorgung und der Sozialhilfe möglich wäre (vgl näher ZAS 1997/10, 89 [G. Gruber]). Mit Pfeil (Probleme des BPGG – Eine erste rechtsdogmatische und rechtspolitische Auseinandersetzung mit ausgewählten Fragen, DRdA 1993, 196) ist daher davon auszugehen, dass es sich beim Pflegegeld um eine völlig eigenständige Sozialleistung neuen Typs handelt, weshalb nicht versucht werden sollte, das Pflegegeld einer der klassischen Kategorien des Sozialrechts zuzuordnen; vielmehr ist das Pflegegeld als eigenständige soziale Kompensationsleistung anzuerkennen, die gleichwertig neben die bisherigen Formen der Vorsorge für soziale Risken tritt (vgl auch ZAS 1997/10, 89 [G. Gruber]).

Dies sollte Anlass sein – näher als dies der OGH bisher getan hat – zu hinterfragen, ob tatsächlich die zum Sozialversicherungsrecht entwickelte Rsp zur Duldungs- und Mitwirkungspflicht in dieser allgemeinen, uneingeschränkten Form auch für den Bereich des Pflegegeldes für nutzbar erklärt werden kann.

Unstreitig hat die Schadensminderungspflicht und die daraus abgeleitete allgemeine Duldungs- und Mitwirkungspflicht nicht nur in die SV Eingang gefunden, sondern auch in das Gebiet des Versorgungsrechtes und kann deshalb allgemein zu den Grundsätzen des Sozialrechts gezählt werden. Da auch das BPGG der Materie des Sozialrechts zuzuordnen ist, kann die Anwendung der Schadensminderungspflicht deshalb auch im Bereich des BPGG grundsätzlich als durchaus begründet angesehen werden. Aufgrund der maßgeblichen Beeinflussung durch das Versorgungsrecht ist jedoch bei der Übernahme von Grundsätzen aus der SV auf die Besonderheiten des Pflegegeldsystems verstärkt Bedacht zu nehmen (vgl näher ZAS 1997/10, 90 [G. Gruber]). Diese Besonderheiten gebieten mE, bei der vom OGH angesprochenen Nutzbarmachung von Grundsätzen aus dem Sozialversicherungsrecht zur Mitwirkungspflicht, insb zur Frage der Zumutbarkeit, aber mit besonderer Behutsamkeit vorzugehen und diese Mitwirkungspflicht nicht zu überspannen (vgl auch Pfeil, BPGG [1996] 262 zur Frage von Sanktionen bei Verletzung einer Mitwirkungspflicht nach § 29501 BPGG idF BGBl 1993/110). Die von der Rsp in anderen Bereichen des Sozialversicherungsrechts (insb zum Versicherungsfall der geminderten Arbeitsfähigkeit) zur Zumutbarkeit entwickelten Voraussetzungen werden deshalb nur in Abstimmung auf die Besonderheiten des durch das BPGG erfassten Personenkreises Anwendung finden können (ZAS 1997/10, 90 [G. Gruber]).

Das BPGG selbst nennt Mitwirkungspflichten ausdrücklich nur im Zusammenhang mit Anzeigepflichten (§ 10), der Annahme von Sachleistungen an Stelle des Pflegegeldes (§ 20 Abs 1 letzter Satz), der Auskunftserteilung und Mitwirkung an einer Begutachtung im Einstufungsverfahren (§ 26 Abs 1) sowie Maßnahmen der Qualitätssicherung (§ 33b Abs 2). Zur Frage der Duldungs- und Mitwirkungspflicht zum Zwecke der Beseitigung oder Minderung eines bestehenden Pflegebedarfs durch eine notwendige und zumutbare (Kranken-)Behandlung findet sich hingegen, so wie auch im Sozialversicherungsrecht, keine ausdrückliche Regelung.

Hingegen findet sich in § 3 EinstV eine Regelung zur Mitwirkungspflicht im Zusammenhang mit der Verwendung von sachlichen Hilfsmitteln zur Vermeidung von Pflegebedarf. Diese Regelung ist deshalb von besonderem Interesse, zeigt sie doch, wie behutsam und einschränkend der Gesetzgeber hier – durchaus im Unterschied zum Sozialversicherungsrecht – vorgegangen ist. Nach § 3 Abs 1 EinstV ist Pflegebedarf insoweit nicht anzunehmen, als die notwendigen Verrichtungen vom Anspruchswerber durch die Verwendung einfacher Hilfsmittel selbständig vorgenommen werden können oder könnten und ihm der Gebrauch dieser Hilfsmittel mit Rücksicht auf seinen physischen und psychischen Zustand zumutbar ist. Derartige „einfache“ Hilfsmittel sind nach stRsp solche, die ohne größeren Aufwand, insb auch in finanzieller Hinsicht, angeschafft werden können (RIS-Justiz RS0106500). Andere, also insb auch teurere Hilfsmittel sind hingegen nach § 3 Abs 2 EinstV nur dann zu berücksichtigen, wenn diese vorhanden oder deren Finanzierung zumindest überwiegend durch den Entscheidungsträger oder sonstigen öffentlichen Kostenträgern sichergestellt ist. Die Erläuterungen zur EinstV zum BPGG (abgedruckt in SozSi 1999, 284 [286]) nennen als Beispiele „einfacher“ Hilfsmittel Duschsessel, Greifzange, Schlüpfschuhe und Westen, als Beispiel eines „anderen“ Hilfsmittels eine Duschtoilette. Damit wurde die Frage der finanziellen Zumutbarkeit der Anschaffung von Hilfsmitteln im Pflegegeldrecht zu einer wesentlichen Frage; dies ist umso beachtenswerter, weil der OGH trotz wiederholter Kritik im Schrifttum diesen Aspekt im Zusammenhang mit dem Hilflosenzuschuss zuvor immer ausgeblendet hatte. So wurde etwa bei der Beurteilung der Hilflosigkeit die übliche Ausstattung eines Haushalts mit Geräten und Maschinen berücksichtigt und erwartet, dass der Hilfsbedürftige einen Standard hält, der unter nicht hilflosen Beziehern gleich hoher Einkommen im selben Lebenskreis üblich ist. Abweichend davon kann bei Beurteilung des Pflegebedarfs nach dem BPGG gem § 3 EinstV bspw das Vorhandensein eines Kühlschranks oder einer Waschmaschine nicht mehr unterstellt werden; deren Anschaffung zur Vermeidung von Pflegebedarf auf eigene Kosten des Pflegebedürftigen einer Einstufung darf nicht mehr verlangt werden (vgl Pfeil, Probleme des Bundespflegegeldgesetzes,

mwN; ders, BPGG 94).

Verlangt nun aber das BPGG im Rahmen der sachlichen Mitwirkungspflicht unter dem Aspekt der finanziellen Zumutbarkeit von Pflegebedürftigen nicht einmal die Anschaffung von Kühlschrank oder Waschmaschine, wofür in einfacher Ausführung weniger als € 300,– auszulegen sind, so scheint es ein Wertungswiderspruch zu sein, es andererseits ohne ausdrückliche Bezugnahme im BPGG mit dessen Intentionen vereinbar zu halten, unter dem Aspekt der persönlichen Mitwirkungspflicht – so wie im gegenständlichen Fall – bei sonstigem Anspruchsverlust eine erhebliche Gewichtsreduktion von rund 40 Kilogramm zu verlangen.

Aber auch das Verlangen nach einem Wohnsitzwechsel in eine zentralere Wohnlage, das Umziehen in eine behindertenfreundlichere Wohnung (zB ohne Treppen, mit Lift) oder gar der Umzug in eine stationäre Einrichtung ist im Pflegegeldrecht generell unabhängig von einer allfälligen individuellen Zumutbarkeit ausgeschlossen. Vielmehr ist stets von den konkret bestehenden Gegebenheiten auszugehen (Gruber/Pallinger, aaO § 4 Rz 37, 40; Greifeneder/Liebhart, Handbuch Pflegegeld3 Rz 338; OGH 30.7.1996, 10 ObS 2212/96h; OGH 11.1.2000, 10 ObS 342/99p). Auch hier kommt eine wesentlich andere Sichtweise der Mitwirkungspflicht im Pflegegeldrecht zum Ausdruck, als dies nach stRsp zu anderen Zweigen der SV der Fall ist.

Neben den nach der Rsp zur Mitwirkungspflicht in anderen Bereichen der SV typischen objektiven Zumutbarkeitskriterien (vgl OGH 6.5.2008, 10 ObS 19/08d uva), wie bspw Gefahrlosigkeit der Heilbehandlung, geringe Schmerzsensationen, kein schwerwiegender Eingriff in die körperliche Integrität, Erfolgsaussicht und Dauer des allfälligen stationären Aufenthalts sowie des Genesungsprozesses, werden im Bereich des Pflegegeldwesens vor allem auch die subjektiven Zumutbarkeitskriterien wie bspw Alter, körperliche, geistige und psychische Eigenschaften mit besonderer Behutsamkeit zu beurteilen sein.

Es überrascht, dass eine Auseinandersetzung mit diesen – der rechtlichen Beurteilung zuzurechnenden – Aspekten der Mitwirkungspflicht unter Bedachtnahme auf die dargestellten Besonderheiten des Pflegegeldrechts, auch durch die Vorinstanzen nicht erfolgt ist. Es besteht die Gefahr, dass die Praxis unter Bezugnahme auf diese Rsp die insb zum Versicherungsfall der geminderten Arbeitsfähigkeit entwickelten Grundsätze uneingeschränkt auf Pflegegeldfälle anwendet. So wurde etwa eine Reduktion des Pflegebedarfes eines 29-jährigen Kl durch einen operativ einzusetzenden Magenring bei einem Lungeninfarktrisiko von etwa 10 % für zumutbar erachtet (LG Salzburg 15.3.2011, 11 Cgs 203/10z).

Da nach stRsp nur eine schuldhafte, also eine zumindest leicht fahrlässige Verletzung der Duldungs- oder Mitwirkungspflicht zum Verlust des Anspruches führen kann (OGH 19.3.2002, 10 ObS 203/01b uva), und das Berufungsgericht zudem ausgehend von seiner vom OGH nicht geteilten Rechtsansicht die Behandlung der Tatsachenrüge unterlassen hatte, hat der OGH die Rechtssache letztlich an das Berufungsgericht zur neuerlichen E nach Behandlung der Tatsachenrüge zurückverwiesen.502